Der Tsunami als Friedensstifter

„Die Rebellen werden als Guerilla wahrgenommen, nicht als Politiker“

AUS BANDA ACEH UND BIREUEN SVEN HANSEN

Bezirksvorsteher Mohamad Ali ist nervös. In seinem kargen Büro im Ort Kuta Melaka bei der Provinzhauptstadt Banda Aceh empfängt er zwei Mitglieder der zivilen „Aceh Monitoring Mission“ (AMM). Die Männer aus Finnland und Brunei wollen wissen, ob Ali wie vereinbart Rebellen der „Bewegung Freies Aceh“ (GAM) zum Treffen mit den Friedensbeobachtern geladen hat. „Wir haben der GAM Bescheid gesagt“, antwortet der Oberst Susetyo, der in Alis Büro auf die Friedensbeobachter gewartet hat. Damit signalisiert Susetyo, dass die Macht hier beim Militär liegt. „Ob die Rebellen aber kommen, wissen wir nicht“, sagt er. „Sie sind schon einmal nicht erschienen. Deshalb sollte die AMM künftig die GAM selbst einladen.“

Ilkka Pohjalainen lehnt das ab. Der 48-jährige finnische Journalist beobachtet hier im EU-Auftrag die Umsetzung des am 15. August in Helsinki geschlossenen Abkommens („Memorandum of Understanding“) zwischen Indonesiens Regierung und den Rebellen. Darin verpflichten sich diese, 840 Waffen abzugeben. Die Regierung muss im Gegenzug nicht-acehnesische Soldaten und Polizisten abziehen. Die GAM gibt, so ist es ausgemacht, die Forderung nach einem eigenen Staat auf. Dafür darf sie künftig bei Regionalwahlen antreten.

„Wichtig ist, dass die GAM zum Treffen geladen wird“, erklärt Pohjalainen, der schon auf dem Balkan und im Nahen Osten Friedensbeobachter war. „Ob sie kommt, ist dann ihre Sache.“ Er legt Wert darauf, dass sich die Konfliktparteien direkt austauschen und dies nicht der Vermittlung der AMM überlassen.

Laut Vorsteher Ali sind unter den 5.177 Bewohnern des Bezirks 14 Rebellen, die die Regierung nach dem Abkommen amnestiert hat. Ob es weitere gibt, wisse er nicht. Offizier Susetyo will nicht sagen, wie viel Soldaten hier stationiert sind. Das dürfe nur sein Vorgesetzter. Auf jeden Fall werden es künftig weniger sein. Denn ab heute sollen, so verlangt es das Abkommen, auch noch die letzten auswärtigen Soldaten die Provinz verlassen.

Das Treffen der Friedensbeobachter mit den Vertretern der Konfliktparteien und den Dorfchefs des Bezirks findet in einer Halle statt, die eine irische Hilfsorganisation für Tsunami-Opfer baute. Zwar blieb der Bezirk selbst von der Flut verschont, doch leben hier viele Opfer in Baracken neben der Halle, die auch als Moschee dient.

Friedensbeobachter Muhamad Amin aus Brunei eröffnet das Treffen. Die AMM tritt immer in gemischten Teams aus Südostasiaten und Europäern auf. Da Amins malaiische Muttersprache mit dem Indonesischen fast identisch ist, kann er die 40 Anwesenden direkt ansprechen. Er fragt, wer zur GAM gehört. Deren hiesiger Anführer hat bereits in Zivil zwischen Oberst Susetyo und Bezirksvorsteher Ali Platz genommen. Zwei weitere Männer heben schüchtern die Hand. Sie sind es nicht gewohnt, sich öffentlich zur GAM zu bekennen. Amin erklärt, dass die AMM neutral ist, ihr Mandat bis zum 15. März 2006 gilt, dass sie aus 231 Europäern und Asiaten besteht und elf Büros in Aceh hat.

Was genau zu tun ist, definiert der Finne Pohjalainen per Dolmetscherin: „Erst überwachen wir die Entwaffnung der GAM und den Rückzug von Militär und Polizei. Dann kümmern wir uns stärker um den politischen Prozess und die Reintegration der Ex-Rebellen.“ Bisher stellte die AMM keinen ernsten Verstoß gegen das Abkommen fest. Für künftige Beschwerden nennt der Finne seine Handynummer.

GAM-Kommandant Mukhlis Basyah sagt, er freue sich über das Abkommen. „Es ist Zeit für ein neues Leben.“ Die rechte Hand des 34-Jährigen ist verbunden – eine Schussverletzung, die er bei Kämpfen mit dem Militär erlitt. Wie viele Ex-Rebellen kann er sie erst jetzt, in friedlicheren Zeiten, behandeln lassen. Er fordert die Dorfchefs auf, allen von diesem Treffen zu berichten. Es gehe jetzt um Acehs Wiederaufbau nach dem Tsunami, so Basyah. Die GAM wolle als politische Partei neu beginnen.

Oberst Susetyo erinnert daran, dass die Acehnesen einst für Indonesiens Unabhängigkeit kämpften. „Wir sollten stolz darauf sein, Indonesier zu sein“, sagt er. Doch bleiben die Dorfchefs bei diesem nationalistischen Appell äußerlich so ungerührt wie bei den Worten des GAM-Führers. In fast 30 Jahren Krieg haben sie gelernt, ihre Gedanken für sich zu behalten.

Pohjalainen ist zufrieden, weil alle wichtigen Personen des Bezirks gekommen sind – auch der Imam, der das Friedensabkommen als „große Gnade Allahs“ bezeichnet. „Der als neutral angesehene Imam verleiht dem Treffen große Glaubwürdigkeit“, sagt der EU-Beobachter.

Die Hauptkritik am Abkommen wie am Friedensprozess lautet bislang, dass Acehs Zivilgesellschaft nicht beteiligt wird. Dies soll sich künftig ändern. Die Beobachter wollen mit möglichst vielen Menschen ins Gespräch kommen. „Wir reisen in alle Bezirke und erklären das Abkommen und unsere Arbeit“, sagt Pohjalainen.

Dass der Friedensprozess bisher unerwartet reibungslos verlief, erklärt Pohjalainen mit einer weit verbreiteten Kriegsmüdigkeit. Der lokale GAM-Führer Basyah etwa freut sich, die Berge verlassen zu können. Ohne die AMM würde er das nicht machen, denn: „Ohne dritte Partei gibt es hier keinen Frieden.“

In Banda Aceh hat die GAM inzwischen ein Büro eröffnet, das Irwandi Yusuf leitet. Nur knapp entging er dem Tsunami: Er saß im Gefängnis der Stadt, als die Wassermassen es überfluteten. Nur 50 der 280 Insassen überlebten. Zum Interview kommt Yusuf fast zwei Stunden zu spät. Ein Bauer habe auf seinem Land einen Baum gefällt, berichtet Yusuf. Soldaten hätten ihn deshalb der illegalen Rodung bezichtigt. Als sie ihn als GAM-Mitglied erkannten, hätten sie ihn verprügelt und verhaftet. „Das sind die typischen kleinen Probleme, wie wir sie hier haben“, sagt Yusuf. Nachdem AMM-Vertreter erschienen sind und auch Yusuf holten, habe das Militär versprochen, den Mann freizulassen. „Das Abkommen funktioniert“, folgert Yusuf. Alle Wünsche allerdings hätten sich nicht umsetzen lassen: „Wir mussten unsere Forderung nach Unabhängigkeit fallen lassen, weil sie unrealistisch ist. Hätten wir nach dem Tsunami nicht nachgegeben, hätten wir uns unbeliebt gemacht.“ Jetzt rechnet Yusuf damit, dass die GAM bald als politische Partei Autonomie für Aceh erreichen wird und bei Wahlen dort 80 Prozent der Stimmen erhält – sofern alles mit rechten Dingen zugeht.

Der acehnesische Menschenrechtsaktivist Mohamad Wiratmadinata ist da skeptischer. 80 Prozent Zustimmung für die GAM hält er für unrealistisch: „Die Rebellen gelten als ungebildete Leute aus dem Hinterland. Ihre Führer kennt fast niemand. Sie werden als Guerilla wahrgenommen, die zu Acehs Problemen beitrug, und nicht als vertrauenswürdige demokratische Politiker.“ Wiratmadinata warnt vor einem Rückschlag, wenn die GAM feststellen müsse, dass sie nicht so beliebt sei, wie sie hofft. „Ich fürchte nicht, dass die GAM zum Krieg zurückkehrt, sondern dass enttäuschte Kämpfer kriminell werden.“ Schon heute würden sich Kriminelle als GAM ausgeben und Schutzgelder erpressen. Auch Chik Rini teilt diese Skepsis. Rini kümmerte sich früher um Opfer des Bürgerkriegs. Heute betreut sie Tsunami-Geschädigte. „Die GAM ist stark in den Dörfern, nicht in den Städten“, sagt sie. Dennoch könne eine GAM-Partei durchaus 50 Prozent bekommen. Doch die Gesetze zur Zulassung der GAM als Regionalpartei würden jetzt in Jakarta gemacht. Die GAM selbst habe da keinen großen Einfluss.

Der Bezirk Bireuen an der weniger vom Tsunami zerstörten Ostküste gilt als GAM-Hochburg. Ihr dortiger Sprecher Nasaruddin fordert AMM auf, mit neuem Mandat später auch Wahlen zu überwachen. „In nur sechs Monaten lässt sich kein jahrzehntelanger Konflikt beenden“, sagt er. „Auch sind die vom Militär aufgebauten Milizen nicht aufgelöst.“

Beim AMM-Büro in der Bezirkshauptstadt Bireuen wird gerade eine Schule wieder aufgebaut, die die GAM vor zwei Jahren angezündet hatte. Der deutsche EU-Beobachter Gunnar Eichholz, der hier zuvor für eine Hilfsorganisation arbeitete, sagt: „Früher war Bireuen eine Geisterstadt, die Atmosphäre von Angst geprägt.“ Inzwischen sind die Straßencafés voll, und auf der 220 Kilometer langen Straße nach Banda Aceh gibt es keine Militärkontrollen mehr. Noch bis August war das anders. Reisende wurden drangsaliert und abkassiert. Fahrten im Dunkeln galten als zu gefährlich.

Eichholz kritisiert, dass sich die vielen nach dem Tsunami in Aceh aktiv gewordenen Hilfsorganisationen zu wenig um den Frieden gekümmert hätten. „Hier muss die Zivilgesellschaft wieder aufgebaut werden“, sagt der Frankfurter, der einer von elf Deutschen bei der AMM ist. Die GAM sei im Hinterland sehr stark, da das Militär in diesen Gegenden besonders repressiv gewesen sei. Kürzlich hätten dort tausende Menschen Rebellen, die die GAM entwaffnet hat, in der Legalität willkommen geheißen. „Wir brauchen sichtbare Friedensprojekte, die alte Konfliktmuster aufbrechen“, so Eichholz.

Beamte wie Bezirksvorsteher Ali in Kuta Melaka müssen jetzt lernen, die Ex-Rebellen als normale Bürger zu behandeln. „Das Innenministerium hat uns angewiesen, dass GAM-Mitglieder künftig die gleichen Rechte wie alle haben. Sie bekommen jetzt sogar Personalausweise“, sagt Ali. Er macht noch immer einen ungläubigen Eindruck.