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Die WahrheitLeben nach dem Untergang

Wer die Zukunft Deutschlands begreifen will, der muss auf Kontinente schauen, die vor uns untergegangen und wiederauferstanden sind. Zum Beispiel Atlantis.

Bild: Rattelschneck

Das 21. Jahrhundert, so tönt es aus kenntnisreichem Munde bzw. den Mündern kenntnisreicher Köpfe, wird ein asiatisches Jahrhundert: Die transatlantische Hegemonie wird vergehen, der Osten neu erstehen, und schon heute blickt alle Welt nach Asien, nach China, um zu gucken, wohin die Reise geht. Dabei wird übersehen, dass es eine Spezies von Kontinenten gibt, deren Schicksal uns viel näher gehen sollte als Asien und Indien: nämlich die der untergegangenen Kontinente.

Denn, wer auch in den nächsten fünfzig Jahren weltwirtschaftlich das Ruder an sich reißt – untergegangen wird immer, wie ein alter Spruch unter Kontinentalarchitekten besagt. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis der europäische Kontinent sich auf eine lange Wanderschaft Richtung Osten macht, um sich irgendwie plattentektonisch mit Asien zu verknäulen, bis ein unförmiger, gedrungener Klumpatsch von Mittelgebirgen, Seenplatten und Heidelandschaften ziemlich würdelos im Ozean versinkt.

Afrika hingegen geht erst mal nur in Ausschnitten unter, verwandelt sich in eine Art Groß-Norwegen, bildet zahllose Fjorde, Lagunen und Halbinseln aus, um schließlich mit nur mehr ein paar Bergkämmen aus dem Wasser rauszugucken wie ein zahnloses altes Krokodil.

Holland abgeschrieben

Man muss aber gar nicht erst geologisch werden, um sich für den Untergang des Abendlands zu interessieren. Bekanntlich kann man schon jetzt große Teile Hollands abschreiben. In den herannahenden Fluten arktischen Schmelzwassers werden die Küstengebiete hinwegblubbern, schneller und schneller, und wenn wir Glück haben und Gott Klimawandel sich gnädig erweist, liegt die Nordseeküste dann etwa auf der Höhe von Hannover.

Dies wird der Stadt natürlich einerseits einen bis dato nie da gewesenen Reiz verschaffen. Andererseits liegen dann große Teile des deutschen Staatsgebiets dauerhaft unterhalb des Meeresspiegels. Niedersachsen und die Hansestädte werden sich endgültig als unregierbar darstellen, und zwar schon Millionen Jahre bevor die Erdkruste überhaupt daran denkt, mit ihrem Frühjahrsputz zu beginnen.

Wer also die Zukunft Deutschlands und Europas begreifen will, der muss auf Kontinente schauen, die schon vor uns untergegangen sind; der muss nach Atlantis blicken. In antiker Zeit eine Weltmacht von Rang, zeigte sich die aus zehn Bundesländern bestehende Demokratische Republik Atlantis noch im 20. Jahrhundert international weit abgeschlagen. Das einst als Perle des Mittelmeers gefeierte Inselparadies lag deutlich unterhalb europäischer Mindeststandards, nämlich circa 1,8 Kilometer unter der damaligen durchschnittlichen Küstenlinie. Viele Beobachter hatten Atlantis abgeschrieben – noch heute ist nur jeder dritte Amerikaner in der Lage, den Staat auf einer Landkarte zu kennzeichnen.

Lügenpresse und Atlantis

Schuld hat vor allem die schlechte Presse. Mit Beginn der geologischen Prozesse, die von interessierter Seite gleich hysterisch zum „Untergang“ stilisiert wurden, kam Atlantis nicht mehr aus den Schlagzeilen. Plato, ein konservativer, dem feindlichen Griechenland zugehöriger politischer Publizist, berichtete von der völligen und rettungslosen Zerstörung des Eilands durch Erdbeben und Sturmfluten; sein pamphletartiger Text wurde von den Nachrichtenagenturen übernommen und unkritisch weiterverbreitet.

Internationale Hilfe blieb aus, in der Folge konnten die Atlanter nicht angemessen auf den Klimawandel an ihren Ufern reagieren. Viele sahen sich von der Regierung im Stich gelassen, wanderten aus und siedelten sich in Ägypten an, wo sie vor allem als Zivilisationsstifter und Zauberer Arbeit fanden.

Lange Zeit blieb es ruhig um Atlantis. Doch mit Beginn des Computerzeitalters erwachte das Land aus seinem Rapunzelschlaf. Heute ist Atlantis ein weltweit geachteter Banken- und Finanzschauplatz. Eine zurückhaltende Steuerpolitik, eine schlanke Bürokratie und ein für internationale Kontrollen schwer zugängliches Staatsgebiet auf dem Meeresgrund machen Atlantis global attraktiv für Anleger, die sonst auf politisch instabile, von Krisen geschüttelte Konkurrenten wie Luxemburg oder die Schweiz ausweichen müssten.

Auch die Bevölkerung hat von dem Finanzboom profitiert. Die Analphabetenquote ist die niedrigste in Europa, ebenso wie die Zahl der Gewaltverbrechen und der Selbstmorde. Die Versorgung mit fließend Wasser ist flächendeckend gewährleistet, frischer Fisch steht stets zur Verfügung. Auch kulturell erlebt Atlantis eine Blütezeit – jedes Jahr erscheinen in renommierten Esoterikverlagen zahlreiche Bücher, die den Inselstaat zum Thema haben; der atlantische Botschafter in Deutschland, Erich von Däniken, ist zugleich ein weltweit geachteter Fantasy-Schriftsteller mit Millionenauflage.

Lehren aus dem Atlantis-Untergang

Beim bevorstehenden Untergang Deutschlands täten die Regierenden deshalb gut daran, Lehren aus dem „Untergang“ von Atlantis zu ziehen. Reformen, die die Arbeit von Finanzdienstleistern erleichtern, müssen noch schneller und noch entschiedener umgesetzt werden – juristisch darf es für diese extrem volatile Branche keinen Unterschied machen, ob Deutschland überhaupt existiert oder nicht. Aber vor allem in Sachen Pressearbeit lässt sich viel aus „Atlantis-Gate“ lernen. Es nützt zum Beispiel nichts, die Sache schönzureden; überlässt man die Berichterstattung dem politischen Gegner, bröckelt die internationale Solidarität weg, das hat die Plato-Affäre gezeigt.

Die Deutschland-Saga

Vielmehr wäre die Bundesregierung aufgerufen, rechtzeitig einen reichhaltigen Sagenschatz über das untergegangene bzw. untergehende Deutschland in die Welt zu setzen, um ein dauerhaftes Überleben der Bevölkerung in der Fantasie zukünftiger Generationen zu sichern. So könnte man schon heute kostengünstige Legenden in die Welt setzen, etwa von dem sieben Stockwerke hohen güldenen Poseidon-Tempel in Berlin, von der schwebenden dreifachen Ringbahn oder der Ruinenstadt Beh-Eh-Err, welche den Göttern der Lüfte geweiht war.

Neben Atlantis gibt es noch weitere Staaten, die sich aus ihrer Katastrophen- eine Erfolgsstory gebastelt haben. Ein anderer untergegangener Kontinent direkt vor der europäischen Haustür ist Hy-Brasil, eine Ferieninsel westlich vor Irland, die bereits zu Zeiten von Christoph Kolumbus als wichtiges Industriezentrum für die Hersteller von hochwertigem Seemannsgarn galt. Schon in dieser Epoche entwickelte Hy-Brasil ein revolutionäres Arbeitszeitmodell, das den angeblichen Untergang der Insel in Wahrheit um Jahrhunderte hinauszögern wird.

Die Insel erscheint nämlich nur alle sieben Jahre, und auch dann nur für einen einzigen Tag. Diese Managementstrategie ermöglicht es den Arbeitgebern, flexibel auf eine sich rasch verändernde Auftragslage zu reagieren; die Arbeitnehmer können sich in der Zeit der Nichtexistenz der Insel ihren Familien zuwenden oder die Zeitungen vom vergangenen Jahrsiebt nachlesen – eine Form der Kurzarbeit, die Deutschland schon einmal sicher durch die Krise gebracht hat.

Kluger Kompromiss

Aber auch ein Blick über den europäischen Löffelrand hinweg kann sich lohnen. Da ist etwa Neuseeland – der sichtbare Teil eines viel größeren unterseeischen Kontinents namens Zealandia, der sich weit in den Pazifik hinein erstreckt. Auch hier wurde ein kluger Kompromiss gefunden: besiedelt und bewirtschaftet werden allein die landschaftlich attraktiven Teile des Kontinents, der Rest wird auf Abruf unter Wasser eingelagert.

Sollte einmal ein neues, größeres Stück Neuseeland gebraucht werden, etwa weil Regisseur Peter Jackson noch das Impressum des „Herrn der Ringe“ mit einer eigenen Filmtrilogie würdigen möchte, lassen sich, dank einer äußerst raffinierten Hebebühnenkonstruktion, die benötigten Landschaften aus den Fluten heben und ebenso leicht wieder versenken.

Auch hier kann Deutschland lernen: Die in Sachen Landschaft und Menschenmaterial eintönigen Ostgebiete etwa müsste man nach diesem Vorbild nicht ganzjährig mit horrenden Steuergeldern am Leben erhalten, sondern könnte sie kostenneutral in der Ostsee zwischenspeichern.

Es liegt nun am politischen Berlin, diese Strategien für ein erfolgreiches Absaufen des Landes fruchtbar zu machen – auf dass man auch hierzulande sagen kann: Sintflut? Ja, bitte!

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