Muss Leiharbeit abgeschafft werden?
JA

GERECHTIGKEIT Immer mehr Firmen leihen sich Beschäftigte – um flexibel zu bleiben. Viele wollen jedoch zugleich Löhne drücken und Betriebsräte ausschalten

Annelie Buntenbach, 54, ist im geschäftsführenden Bundesvorstand des DGB

Der Missbrauch in der Leiharbeit muss schnellstens beseitigt werden. Der Fall Schlecker zeigt, dass es sich oft um systematisches Lohndumping handelt, indem reguläre Arbeitsplätze durch schlecht bezahlte Leiharbeit ersetzt werden. Diesem Missbrauch wurden 2003 per Gesetz Tür und Tor geöffnet. Anders als zum Beispiel in Frankreich, wo Leiharbeiter/innen nicht nur den gleichen Lohn für gleiche Arbeit, sondern eine zusätzliche Prämie erhalten, bezieht hier jede/r achte Leiharbeiter/in zusätzlich Hartz IV, weil die Löhne nicht zum Leben reichen. Das Problem ist, dass Union und FDP die Zustände wie bei Schlecker zwar beklagen, doch die Durchsetzung der Gleichbehandlung von Leiharbeiter/innen und Mindestlöhne in der Branche seit Jahren blockieren.

Klaus Ernst, 55, Vizeparteivorsitzender der Linken sowie arbeitspolitischer Sprecher

Die rot-grüne Regierung hat im Zuge der Hartz-Reform die Leiharbeit dereguliert und Lohndumping Tür und Tor geöffnet. Gefälligkeitstarifverträge von „christlichen Gewerkschaften“ sorgen dafür, dass der Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ systematisch unterlaufen wird. Dabei ist der Fall Schlecker nur die Spitze des Eisbergs. Die Befürchtung, durch Schlecker werde die ganze Leiharbeitsbranche diskreditiert, ist falsch: Sie ist es bereits, und das zu Recht. Um die Auswüchse modernen Sklaventums durch Leiharbeit zu bekämpfen, fordert Die Linke das Prinzip „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ ohne Ausnahmeregelungen. Die Überlassungshöchstdauer soll wieder auf drei Monate begrenzt und den Leiharbeiter/innen ein Flexibilitätszuschlag gezahlt werden.

Benedikt Hopmann, 60, Anwalt, vertritt Betriebsräte – auch die von Schlecker

Unternehmer leihen sich Arbeitskräfte aus, weil sie damit Lohnkosten, Urlaub, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und Kosten und Fristen für Kündigungen sparen. Leiharbeiter unterliegen nicht dem Tarif des Betriebs, in dem sie eingesetzt werden. Die Regel „Equal pay“ gilt nicht, weil die Schröder-Regierung, vereint mit CDU und FDP, im Jahr 2004 diesen Grundsatz mit einer Ausnahmeklausel verband: „Ein Tarifvertrag kann abweichende Regelungen zulassen.“ Den Zusatz „zugunsten der Arbeitnehmer“ ließ man weg. Dass sich aber immer „Strohgewerkschaften“ finden, die mit den Leihfirmen viel niedrigere Tarifverträge abschließen und damit die DGB-Gewerkschaften unter Zugzwang setzen, war der Regierung wohlbekannt. Es gibt keine Kampfkraft in Leiharbeitsfirmen. Was Leiharbeitern an Löhnen genommen wird, teilen sich die Unternehmen. Kündigt die Leiharbeitsfirma, klagt der Gekündigte fast nie, weil er hofft, später doch wieder eingestellt zu werden. Leiharbeiter sind ohne Geld, ohne Recht und ohne Macht. Leiharbeitsfirmen handeln mit Menschen. Menschenhandel muss abgeschafft werden.

Hardy Klag, 50, ist taz.de-User und hat einen Kommentar zur Streitfrage online gepostet

Leiharbeit muss auf jeden Fall abgeschafft werden, und zwar ausnahmslos. Wenn man sich bei Firmen wie beispielsweise BorgWarner (früher Kühnle Kopp & Kausch) oder bei den meisten Autoherstellern bewirbt, wird man an Leiharbeitsfirmen verwiesen. Und die bezahlen meistens nur die Hälfte.Es ist unerträglich, wenn man neben einem Festangestellten, der das Doppelte für die gleiche Arbeit verdient, arbeiten muss. Das muss sofort aufhören. Das ist moderne Skaverei.

NEIN

Ursula von der Leyen, 51, ist seit November 2009 Bundesarbeitsministerin (CDU)

Nein! Wir brauchen die Zeitarbeit, gerade weil sie für diejenigen Arbeit ermöglicht, die sonst kaum Chancen haben. Fast zwei Drittel der Leiharbeiter waren vor dem Einstieg bei ihrer Zeitarbeitsfirma arbeitslos. Weitere 9 Prozent hatten noch nie zuvor einen Job. Die Arbeit für eine Zeitarbeitsfirma ist allemal besser als Langzeitarbeitslosigkeit, Schwarzarbeit oder 400-Euro-Jobs. Denn Zeitarbeiter sind sozial abgesichert, ihre Arbeitgeber leisten Sozialversicherungsbeiträge. Häufig arbeiten sie zu denselben Konditionen wie die Stammbelegschaft, oder sie sind durch Tarifverträge abgesichert. Die Intention des Gesetzgebers war und ist, dass Flexibilität am Arbeitsmarkt und Schutz ausbalanciert sind. Natürlich profitiert auch die Wirtschaft. Es ist aber nicht akzeptabel, dass Unternehmen die gute Idee der Zeitarbeit ad absurdum führen, komplette Stammbelegschaften vor die Tür setzen, damit sie morgen zu schlechteren Bedingungen via Leiharbeit wieder auf demselben Arbeitsplatz erscheinen. Das ist Missbrauch, den wir nicht dulden. Ich werde dafür sorgen, dass Versuche, das Gesetz zu umgehen und Zeitarbeit in Verruf zu bringen, scheitern.

Olaf Scholz, 51, war bis 2009 Arbeitsminister und ist Vizevorsitzender der SPD

Wir müssen die Leiharbeit nicht abschaffen, denn sie kann helfen, Menschen in Arbeit zu bringen – aber sie braucht klare Regeln und eine Begrenzung. Einem Missbrauch von Leiharbeit, bei dem Kernbelegschaften dauerhaft durch Leiharbeitnehmer ersetzt werden, müssen wir entgegentreten. Daher sollten die Mitbestimmungsrechte von Betriebsräten über Zahl und Dauer der Leiharbeitsverhältnisse im Unternehmen ausgeweitet werden. Der konzerninternen Verleihung muss ein Riegel vorgeschoben werden. Um die Leiharbeiter zu schützen, muss der Equal-Pay-Grundsatz spätestens nach einer kurzen Einarbeitungszeit unabänderlich gelten: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Vor allem brauchen wir eine Lohnuntergrenze in der Leiharbeit. Wenn jemand Vollzeit arbeiten geht, muss er davon leben können. Egal, ob er seine Arbeit als Leiharbeiter oder regulär Beschäftigter leistet.

Frank Hahn, 46, Arbeitsrechtsanwalt, vertritt Discount-Unternehmen wie Schlecker

Seit der Liberalisierung der Leiharbeit im Jahr 2004 ist diese Beschäftigungsform so stark wie keine in Deutschland gewachsen. Mit positivem Ergebnis. Denn nach Erhebungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung werden insgesamt etwa 30 Prozent der LeiharbeiterInnen fest übernommen, teils von den Unternehmen, wo sie eingestellt sind, teils von anderen Unternehmen. In Zukunft wird die Leiharbeit weiter boomen. Der Vergleich mit den europäischen Nachbarländern, in denen es mehr Leiharbeiter gibt als in Deutschland, zeigt, dass Leiharbeit auch für die Unternehmen, die eine Flexibilität, insbesondere bei Auftragsspitzen benötigen, eine sinnvolle Beschäftigungsform ist.

Ulrich Walwei, 51, Vizedirektor des Forschungsinstituts der Agentur für Arbeit

Die Leiharbeit hat sich trotz starker Verluste im Zuge der Wirtschaftskrise national und international als eine immer wichtigere Erwerbsform etabliert. Sie erleichtert den Einstieg in die Beschäftigung. Gerade für Geringqualifizierte bietet sich so eine Einkommensquelle statt der Abhängigkeit von staatlichen Transferleistungen. Damit mildert die Leiharbeit die negativen Konsequenzen des Strukturwandels für wettbewerbsschwächere Arbeitnehmer zumindest ab.