piwik no script img

Ursachen für StaatszerfallNach der Diktatur

Im Jemen wiederholen sich die Krisen Libyens und Somalias: Der Sturz eines autoritären Herrschers hinterlässt ein Machtvakuum.

Komplexe Rivalität: Anhänger von Präsident Hadi im Süden des Jemen. Bild: dpa

BERLIN taz | Wenn sich mehrere bewaffnete Kräfte in einem Land bekämpfen, von denen keine, nicht einmal die Regierung, die volle Staatsgewalt ausübt, spricht man von Staatszerfall. Jemen ist das aktuellste, aber keineswegs einzige Beispiel dafür, wie sich ein Staat auflöst: Der rechtmäßige Übergangspräsident ist aus der Hauptstadt Sanaa in die südliche Wirtschaftsmetropole Aden geflohen. In Sanaa regieren schiitische Rebellen, die sich mit dem früheren Präsidenten zusammengetan haben sollen und nach Aden marschieren.

Beide Seiten haben unterschiedliche Teile des Staatsapparats unter ihrer Kontrolle. Dazu kommen lokale Clanmilizen sowie sunnitische Gruppen mit Loyalität zu al-Qaida. Die Verworrenheit wird noch verstärkt durch eine komplexe Rivalität zwischen Regionalmächten.

Wie in allen Bürgerkriegsländern gibt es auch in Jemen ebenso viele Lesarten des Konflikts wie Bürgerkriegsparteien, aber ein Merkmal hat die jemenitische Krise unzweifelhaft mit der in anderen „Failing States“ gemeinsam: Es gab eine lange autoritäre Herrschaft, die gegen den Willen des Herrschers beendet wurde – aber deren Überwinder miteinander verfeindet waren und sich untereinander nicht über die Zukunft einig wurden.

Im Jemen geht es um Altpräsident Abdulla Saleh, der den Norden seit 1978 und das vereinte Land seit 1990 ununterbrochen regierte. Nach Massenprotesten gab Saleh zwar 2012 die Macht ab – aber wirklich abgefunden hat er sich damit nie. Sein Nachfolger und vorheriger Stellvertreter Mansur Hadi schaffte es nicht, die Kontrolle zu wahren oder auch nur als Übergangspräsident die vereinbarten Verhandlungen über eine politische Neuordnung zum Abschluss zu führen.

Proteste erbarmungslos niedergeschlagen

Der Jemen ist Hadi entglitten und kein Einzelner scheint heute stark genug, das Land zusammenzuhalten. Die Situation ähnelt der im Jahr 2011 in Libyen und im Jahr 1991 in Somalia. Der Libyer Muammar al-Gaddafi ebenso wie der Somalier Siad Barre hatten ihre Länder jahrzehntelang kujoniert und schließlich weite Teile ihrer Bevölkerungen gegen sich aufgebracht. Beide schlugen Proteste erbarmungslos nieder, Barre sogar mit Chemiewaffen – geliefert von Gaddafi – und Luftangriffen.

Die Diktatur war in beiden Ländern so brutal, dass sich keine landesweite Opposition formieren konnte, sondern nur lokaler Widerstand. Und als die Diktatoren gestürzt waren, konnten die vielen lokalen Gruppen nicht in ihre Fußstapfen treten; der Zentralstaat erwies sich als eine Nummer zu groß.

Somalia ist längst in seine Bestandteile zerfallen; die ständigen Versuche, einen neuen Zentralstaat zu errichten, gleichen künstlichen Wiederbeatmungsversuchen von außen. Libyen, mit seinen rivalisierenden Machtzentren in Tripolis und Tobruk, seinen auf eigene Rechnung kämpfenden Milizen in Misurata und Sirte und seinen nach Autonomie strebenden Stämmen, steckt mitten im Zerfall. Und der Jemen jetzt auch.

Bild: infotext

In Somalia und Libyen hat sich gezeigt: Dort, wo ein diktatorisches System extrem auf Personalisierung und Willkürherrschaft aufgebaut ist, entsteht nach dem Sturz des Autokraten ein Machtvakuum. Dies bedeutet nicht unbedingt, dass die vorherige Diktatur besonders stark gewesen sein muss.

In der Zentralafrikanischen Republik trat der endgültige Staatszerfall ein, als Diktator François Bozizé vor genau zwei Jahren von der muslimischen Rebellenkoalition Séléka gestürzt wurde, aber Bozizé war kein Allmächtiger gewesen; vielmehr war der zentralafrikanische Staat schon vorher kaum mehr als Fassade gewesen und Bozizé hatte ihn durch Vetternwirtschaft auf ein Kartenhaus reduziert, das beim ersten Windstoß in sich zusammenfiel.

Verheerende Folgen

Die zentralafrikanische Séléka war schließlich nicht minder zerstritten als die Rebellen Somalias und Libyens. Als nach knapp einem Jahr feindliche Milizen begannen, organisiert alle Muslime der Zentralafrikanischen Republik zu verjagen, hatte sie dem nichts entgegenzusetzen – auch keine Staatsmacht, denn die gab es nicht mehr. Manchmal gibt es das Machtvakuum eben auch schon, während der Staat formal noch zu funktionieren scheint.

Wenn ein Autokrat die Kontrolle über das Land verliert, nicht aber die Kontrolle über die repressiven Mittel des Staatsapparates, können die Folgen allerdings verheerend sein. Dies ist in Syrien der Fall, wo Baschar al-Assad seit Jahren ähnlich durch Aufständische belagert und dem Untergang geweiht scheint wie Barre und Gaddafi vor ihrem jeweiligen Sturz, aber diese Situation in einen Dauerzustand verwandeln konnte: ein Dauerzustand des Überlebenskampfes eines brutalen Regimes mit allen Mitteln gegen Teile der Bevölkerung, die kollektiv zu Kriegsgegnern erklärt werden.

Der Staat ist zerfallen, aber er steht noch – als Kriegspartei, die Krieg gegen das eigene Volk führt. Wie der seit Jahren andauernde syrische Horror zeigt, ist diese Form des Staatszerfalls für die betroffenen Bevölkerungen noch viel schlimmer als alles, was auf einen Sturz des Diktators folgen könnte.

Vernichtungskrieg um die Alleinkontrolle

Deswegen sind die internationalen Sorgen um die Bevölkerung neben Syrien in einem weiteren aktuell betroffenen Land besonders groß: im Südsudan, wo sich zwei Warlords mit jahrzehntelanger Bürgerkriegserfahrung mit allen Mitteln bekämpfen und einer von ihnen Präsident ist. Sie mobilisieren ihre jeweiligen Ethnien für einen Vernichtungskrieg gegeneinander, nur um dem Gegner nicht die Alleinkontrolle zu überlassen. Südsudans Krieg ist etwa so, wie der syrische sein könnte, wenn dort zwei Kriegsgegner mehr oder minder auf Augenhöhe gegenüber stehen würden.

Angesichts der Agonie Syriens und dem, was Südsudan noch bevorzustehen droht, scheint der rasche Sturz eines Gewaltherrschers als das kleinere Übel, selbst wenn hinterher Chaos herrscht. Denn dieses Chaos sollte eigentlich einfacher zu überwinden sein als die vorherige Diktatur.

Im Rückblick scheint ziemlich klar, welche politischen Schritte, gedeckt durch Engagement aus dem Ausland, in Somalia 1991, in Libyen 2011, in Jemen 2012 und in der Zentralafrikanischen Republik 2013 möglich und nötig gewesen wären – also dann, als die alten Autokraten gestürzt waren und die Neuordnung des Landes anstand. Leider blieben stattdessen überall die Krieger sich selbst überlassen. Was dieser Tage im Jemen geschieht, zeigt, wie schnell eine solche Situation vollständig außer Kontrolle geraten kann.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

1 Kommentar

 / 
  • Dominic Johnson vergisst bei seinem Beitrag über die "failed states" im Mittleren Osten und in Afrika einen entscheidenden Punkt: Die militärischen Interventionen der westlichen Staaten in all den betroffenen Ländern, die den Zerfallsprozess dieser Staaten erst ausgelöst haben: Der große Amerikafreund Saddam Hussein konnte die irakischen Kurden mit dem Einsatz von Giftgas ohne größere westlich-menschenrechtliche Kritik massakrieren - erst sein Zugriff auf kuwaitisches Öl machte ihn zum "Widergänger Hitlers". Ghaddafi in Libyen war ein mediokrer Diktator - aber er hielt das Land zusammen und sorgte über Jahrzehnte dafür, dass die breite Masse der Bevölkerung von der Ölrevenue profitieren konnte. Die NATO bombte ihn weg und hat es in dem zerfallenden Elendsstaat immerhin geschafft, dass die verschiedenen Bürgerkriegsfraktionen neue Öl-Verträge mit westlichen Ölmultis abgeschlossen haben.

    Der Südsudan als sezzessionistischer Staat konnte überhaupt nur das Licht der Welt erblicken ("Ein Leuchtfeuer des Christentums in Afrika" FAZ 2014) durch die massive militärische, finanzielle und diplomatische Unterstützung des "Westens". Siad Barre in Somalia wurde mit militärischer Unterstützung der US-Army gestürzt, in Zentralafrika konnten sich die wechselnden Diktatoren auf die permanente Interventionsbereitschaft der französischen Armee stützen...Nichts davon bei Herrn Johnson! Ich habe inzwischen das Gefühl, dass die Zerstörung von Nationalstaaten, die gegenüber dem "Westen" eine unabhängige Haltung einnehmen, einer grundlegenden Strategie westlicher Machtpolitik entspringt.