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FOTORUNDGANG Räume wie leere Bühnen: Anna Lehmann-Brauns’ Fotoserie „Miss You“ in der LSD-Galerie und ein Rundgang durch weitere Ausstellungen und Buchprojekte bekannter Berliner Fotografinnen
VON BRIGITTE WERNEBURG
Anna Lehmann-Brauns fotografiert Räume. Die 1967 in Berlin geborene Fotografin tut das schon lange. Selbst als sie sich 1999 mit dem Porträt beschäftigte, zeigten ihre klugen Charakterstudien von „Oma Kessler“ oder „Mama“ räumliche Gegebenheiten. „Mama“ erkannte sich im roten Badezimmer wieder und Oma Kessler in der Topfpflanze, die sie in die Zimmerecke gerückt hatte.
Das Modell hat damals in der Fotografie Konjunktur, wurde in ihm doch die Frage nach dem Konstruktionscharakter des fotografischen Bildes exemplarisch deutlich. Diese Frage freilich interessierte Anna Lehmann-Brauns bei ihrer Beschäftigung mit dem Modell nur insoweit sie ihr half, den Raum als Bühne zu interpretieren. Wenn sich heute schwer sagen lässt, ob ihr Werk dem dokumentarischen oder inszenatorischen Stil zuzuordnen ist, liegt es daran, dass der Raum für die dokumentarische, sein Bild aber für die inszenatorische Fotografie steht.
Dabei inszeniert und manipuliert die Künstlerin gar nicht – sie findet. „Zwielichtig glanzvolle Orte“, wie Elke von der Lieth in ihrem Beitrag zu Lehmann-Brauns Ausstellungskatalog sagt. Und großartige Farben. Die sind dann in halb öffentlichen Orten wie Bars, Restaurants, Kinos, Hotelfoyers, Warteräumen oder Speisesälen am schönsten. Wenn der Betrieb noch nicht eröffnet ist oder gerade zu Ende ging, wirken die Räume wie leere Bühnen, die Lehmann-Brauns mit der analogen Mittelformatkamera fotografiert, wobei sie die Aufnahme dann keiner weiteren, gar digitalen Postproduktion unterzieht.
Mit ihren vier neuesten Bildern, die sie nun neben zwei älteren Arbeiten in der LSD-Galerie in der Potsdamer Straße zeigt, dringt sie erstmals in Privaträume vor, wenn man ihre 2007 entstandenen Aufnahmen von Berliner Künstler- und Künstlerinnenateliers nicht darunter zählt. LSD ist eine Produzentengalerie, die Lehmann-Brauns mit ihren KollegInnen Sabine Dehnel, Peter Freitag, Viola Kamp und Melissa Steckbauer seit September 2012 betreibt. Die Bilder entstanden in der sogenannten Weißen Villa im Westend, die seit Längerem leer steht. Die vornehm holzgetäfelten, modernistischen Räume des Hausherrn wirken wie klassisch bürgerliche Stillleben, während das Damenschlafzimmer mit seinem runden Bett, seinen üppigen Gardinen und seiner rasanten Wandmalerei rokokohaftes Flair verströmt. Am nachhaltigsten aber bleibt das Fotogemälde der hauseigenen Disco im Gedächtnis, die das Setting in den Siebzigern verortet. Die lässig im Dunkel gruppierten Samtsessel ergeben das treffende Bild des hedonistischen Glücks dieser Ära.
Die gleiche Disco, nur in Schwarzweiß und in Betrieb, meint man bei Heidi Specker zu sehen, die gemeinsam mit Stephanie Kloss bei September ausstellt. Wir blicken aber im Dezember 2012 in den Tanzpalast „Le Roi“ in Turin, dessen Interieur 1959 vom extravaganten Architekten, Designer, Rennfahrer, Romancier und Erfinder Carlo Mollino (1905–1973) entworfen wurde. Heidi Specker interessieren die großen architektonischen Entwürfe und Utopien des 20. Jahrhunderts, denen sie in den Details nachspürt – und das kann auch der Türgriff einer Diskothek sein. Oder wie jetzt, ganz wie bei Lehmann-Brauns, die Sitzsituation: das friedliche entspannte Chaos der zusammengerückten Sessel, dazu die herumliegenden Klamotten und Handtaschen, die Tische mit den Drinks und die Frauen in ihrem Trägerkleidchen.
Das Bild gehört zu einer komplexen, teilweise fiktionalen Rekonstruktion von Mollinos literarischem Werk, die Specker in der Serie „Überflüssige Abenteuer“ unternimmt. Ihre Kollegin Stefanie Kloss wiederum spürt der Dekonstruktion nach: Die perfekte Schwarz-Weiß-Aufnahme der erbärmlichen Reste von Oswald Mathias Ungers’ Häusern am Lützowplatz ist ästhetisch, sozial, politisch das Gegenbild zur Weißen Villa. Sozial- steht gegen Villenbau, Abriss gegen Dämmerschlaf, Fassade gegen Interieur. Da ist es interessant, eine weitere Fotografin ins Spiel zu bringen, Viktoria Bintschok mit ihrem ersten Fotoband „World of Details“.
Auch Bintschok geht es um den Raum und darum, wie er Bild wird. Dabei gilt ihre Aufmerksamkeit dem städtischen Raum im Bild von Google Street View. Sie sucht den Straßenraum auf, den sie zuvor über Google recherchiert hat. Am realen Ort schaut sie genau hin, und bringt die Szene im Detail auf den Punkt: Das könnte auch bei ihr der Türgriff der Diskothek sein – ist aber ein in die Tür gestellter Stuhl, der sie offen hält.
■ Bis 13. April: Stephanie Kloss, Heidi Specker, „Weltausstellung“, Galerie September, Blumenthalstr. 8, Mi.–Sa., 11–18 Uhr
■ Bis 18. April: Anna Lehmann-Brauns, „Miss You“, LSD Galerie, Potsdamer Str. 65, Mi.–Sa., 14–18 Uhr. Heute, 20 Uhr: Artist Talk mit Anna Lehmann-Brauns, Jana Müller und Wiebke Loeper
■ Viktoria Bintschok, World of Details. Distanz Verlag, Berlin 2013
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