Die Wahrheit: Der Geist des Weines
Sonst ist Donnerstag Gedichtetag auf der Wahrheit. Diesmal dürfen sich schon am Mittwoch die Leser an einem Poem über die Tücken der Dichtung erfreuen.
Der Dichter schreibt die erste Zeile
Aufs Blatt und leert ein Gläschen Wein,
Blickt sinnend eine ganze Weile
Ins Nichts und schenkt sich noch eins ein.
Wie soll die zweite Zeile lauten?
Er will sie leuchtend und prägnant.
Der Dichter dreht den arg zerkauten
Und stumpfen Stift in seiner Hand.
Der Dichter träumt von Kostbarkeiten
Des Reims, des Bildes und des Sinns;
Ein drittes Gläschen folgt dem zweiten,
Dann lutscht er noch ein Pfefferminz.
Die erste Zeile klingt nicht übel,
Er deklamiert sie strikt im Takt;
Danach versinkt er in Gegrübel.
Ob er die zweite Zeile packt?
Ein viertes Gläschen soll es richten,
Der Dichter fühlt sich angeregt;
Der Geist des Weines hilft beim Dichten,
Das ist seit Goethe oft belegt.
Ein Einfall! Yeah, ein schlicht brillanter!
Er schreibt ihn hin, hört schon Applaus …
Doch halt, das stammt aus Rilkes „Panther“!
Er streicht die Zeile wieder aus.
Der Dichter flucht und kippt den vierten,
Dann fünften, siebten, zehnten Wein;
Erbricht sich, schläft auf dem verschmierten,
Doch weichen Teppichboden ein.
Der Mond erhellt mit mildem Schimmer
Die Szene, bis er weiterkreist;
Es riecht entschieden streng im Zimmer;
Die erste Zeile bleibt verwaist.
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