Buchtipp

Archipel Europa

Dem Genozid der europäischen Gewaltherrschaften in Europa folgte der Urbizid, der Tod der ost- und mitteleuropäischen Städte. Von Berlin bis Belgrad, von Chemnitz bis ins ostslowakische Košice/Kaschau, von Oradea in Rumänien bis Odessa. Die Städte waren zerstört, ihre Bevölkerungen wurden zuweilen fast vollständig ausgetauscht, die Geschichten umgeschrieben und neu erzählt. Die vielleicht augenfälligsten Merkmale des neuen, größeren Europas entdeckt der unermüdliche Stenograf osteuropäischer Zeitgeschichte, Karl Schlögel, nun gerade in diesen malträtierten Städten. Aus ihrem Geist werde Europa wiedererstehen.In Brünn, Łódź, Czernowitz, Oradea oder Budapest – überall findet Schlögel Spuren eines einst selbstbewussten, wohlhabenden Bürgertums. Heute werden die verfallenen Jugendstilvillen und Industriebauten langsam wieder entdeckt und restauriert sowie jüdische Friedhöfe und Tempel, Bahnhöfe, Schulgebäude, Hotels oder Versicherungsanstalten. In Brünn restauriert man die von Mies van der Rohe gebaute Villa Tugendhat, Bukarest erfindet sich neu als einstiges Paris des Ostens.

Osteuropa ist nah, mit Billigfliegern ist man schnell in Krakau, Brünn oder Budapest, längst benötigt man selbst für die Ukraine kein Visum mehr – der Zug bringt uns nach Lwow/Lemberg, Czernowitz, ja gar auf die Promenade von Jalta. Doch auch anderes zeugt vom neuen Geist. Marjampole, unweit des geografischen Mittelpunkts Europas, ist Europas größter Markt für Gebrauchtwagen, ein Knotenpunkt neuer Mobilität, ähnlich den Flughäfen, Busbahnhöfen oder Häfen.

Die Einigung Europas, so Schlögel, geht nicht von den westeuropäischen Zentren aus, von Brüssel, London oder Paris. Wer wissen will, was Europa heute ist, der sollte einen Blick in die Fahrpläne des Busunternehmens Eurolines werfen. Von fast allen Städten an der Wolga kommt man in die meisten Städte Deutschlands, von Moskau aus kann man Tagesausflüge ins KaDeWe buchen, von Kaunas geht es nach London, von Łódź nach Paris. Für Schlögel sind es die Ameisenhändler, die Tschelnoki, die postmodernen Nachfahren der alter Nomaden und Seidenstraßenhändler, die die wichtigsten, kraftvollsten Beiträge zur Wiedervereinigung Europas leisten. Und wer auch nur ein bisschen mutig ist, sollte einmal mit der Karawane ziehen.

SABINE BERKING

Karl Schlögel: „Marjampole oder Europas Wiederkehr aus dem Geist der Städte“. Hanser Verlag München 2005, 316 Seiten. 24,80 €