Koka für alle und die ganze Welt

AUS SHINAHOTA GERHARD DILGER

Francisco Vargas sitzt auf der Tribüne einer Mehrzweckhalle und schiebt ein trockenes dunkelgrünes Kokablatt in den Mund. „Ohne Koka haben wir keine Zukunft“, sagt der schmächtige Mann. Auf seinen zehn Hektar Land in der tropischen Tieflandregion Chapare in Bolivien baut er Obst und Gemüse an. Und 1.600 Quadratmeter Koka – die Fläche, die einer Familie seit einem Jahr dank eines Abkommens mit der Regierung zusteht. „Seither ist es hier ruhig geworden“, berichtet Vargas, „und wir haben ein bisschen mehr zum Überleben.“

Vargas ist zur Vollversammlung der Kokabauern-Gewerkschaften gekommen, um Evo Morales zu sehen. Am Sonntag will Morales, der in Chapare als junger Kokabauer politisch aktiv wurde mit seiner Partei Movimento Al Socialismo (Bewegung zum Sozialismus) zum Präsidenten gewählt werden. Er wäre der erste Ureinwohner an der Spitze Boliviens, wo sechs der neun Millionen Einwohner indianischer Herkunft sind.

Sein härtester Rivale heißt Jorge Quiroga. Der war schon einmal ein Jahr lang Präsident, bis August 2002. In Chapare setzte er die bolivianische Variante des US-Drogenkrieges fort: Militarisierung, Repression gegen die Kokabauern, manuelle Vernichtung von Kokafeldern, Alternativprogramme mit mäßigem Erfolg – die Nachfrage durch Drogenhändler macht den Kokaanbau jedoch konkurrenzlos attraktiv.

„Wenn Quiroga gewinnt, gibt es wieder Kugeln für uns“, befürchtet Francisco Vargas. Seine Hoffnung heißt Evo Morales. „Wir müssen erreichen, dass Koka international legalisiert wird, damit wir Tee, Medizin, Shampoo oder Liköre aus dem Rohstoff exportieren können“, ruft Morales wenig später vom Podium. Doch dann redet er seiner Basis ins Gewissen. „Hier gibt es einige Compañeros, die mehr Koka anbauen als erlaubt. Das ist Selbstbetrug“, sagt er beschwörend. „Wir müssen die Abkommen einhalten, die wir unterschrieben haben, sonst werden wir unglaubwürdig und gehen in eine große Falle.“

Evo Morales weiß nur zu gut, dass die Legalisierung und Verarbeitung von Koka im großen Stil noch in weiter Ferne liegen. Und dass schon längst wieder mehr Blätter für die Kokainproduktion abgezweigt werden als auf den legalen Märkten der bolivianischen Städte landen. Und vor allem die USA nur darauf warten, eine unliebsame Regierung mit dem Argument zu destabilisieren, sie spiele dem Drogenhandel in die Hände. Morales, der aus seiner Bewunderung für Hugo Chávez und Fidel Castro kein Geheimnis macht, ist den Hardlinern in Washington schon seit Jahren ein Dorn im Auge.

Doch die US-Regierung sollte sich auf ihn einstellen: In sämtlichen Umfragen liegt er mit rund 35 Prozent vorn. Wie auf jeder Wahlveranstaltung sagt er auch vor den Kokabauern: „Wir brauchen 50 Prozent plus eine Stimme.“ Dadurch will er Verhandlungen im Parlament umgehen, denn dort findet in Bolivien die „zweite Runde“ der Präsidentenwahl statt – wenn alle Kandidaten die absolute Mehrheit verfehlen. Genau danach sieht es aus, denn Quiroga pendelt zwischen 25 und 30 Prozent.

Gegen Quiroga und Morales inszeniert sich der Großunternehmer und Exminister Samuel Doria Medina als Kandidat der Mitte. „Schluss mit der Konfrontation, wir wollen Lösungen für unser Land“, verkündet er unermüdlich. Er kann mit 15 bis 20 Prozent rechnen. Programmatisch liegen die drei Kandidaten erstaunlich eng beieinander. Sie plädieren für die Stärkung von Kleinbetrieben und die Kontrolle des ausländischen Großkapitals. Neoliberalismus hat zumindest auf der rhetorischen Ebene ausgedient.

Auch Morales ist schon seit Jahren viel moderater als sein Ruf. Dass er unter einer „Nationalisierung“ der Erdöl- und Erdgasressourcen etwas anderes versteht als Vertreter sozialer Bewegungen in Städten wie Cochabamba oder El Alto, hat er oft deutlich gemacht und wird dafür gern als Verräter beschimpft. „Wir wollen gerechte Verträge mit den Erdölmultis aushandeln, wir wollen sie als Partner, und nicht als Herren“, sagt er gegenüber Journalisten. Auf seinen Wahlplakaten steht aber nur: „Nationalisierung“.

Was er nach einem Wahlsieg vorhat, ist völlig offen. „Vielleicht weiß er es nicht einmal selbst“, sagt ein Vertreter einer Nichtregierungsorganisation aus der Hauptstadt La Paz, der ihn gut kennt. Denn im neu gewählten Kongress dürften die konservativen Parteien der weißen Oberschicht wieder in der Mehrheit sein. Das spräche für einen Pakt zwischen Quiroga und Doria Medina. Morales könnte dann versuchen, mit den sozialen Bewegungen deren zweite Hauptforderung einzuklagen: die rasche Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung.

Oder er zieht Doria Medina auf seine Seite, allerdings um einen hohen Preis: eine Politik, die sich wohl kaum von der seiner Vorgänger unterscheiden würde. Werde Morales ein „zweiter Lula“, also ein übervorsichtiger Reformer wie Brasiliens Präsident, hätte Washington „kein Problem“, wird von US-Botschafter David Greenlee kolportiert. Bei den sozialen Bewegungen außerhalb von Chapare überwiegt Skepsis (siehe unten). Schon die letzte Linksregierung sei Anfang der 80er-Jahre am unkontrollierbaren Druck von unten gescheitert, sagt Abel Mamani, Sprecher einer Stadtteil-Initiative in El Alto, unweit von La Paz.

In Chapare sieht man das naturgemäß anders. „Evo hat unsere Hautfarbe, er spricht unsere Sprache“, sagt eine Marktfrau in Shinahota. „Er hat schon viel für uns erreicht“, sagt die Sozialarbeiterin und MAS-Aktivistin Marcela López, „wir vertrauen ihm.“ Der Schuster Vicente Mamani misstraut zwar allen Politikern, aber vielleicht gibt auch er Morales seine Stimme: „Damit er endlich aufhört, mit Straßenblockaden das Land lahm zu legen.“