SIE KAMEN ÜBER VIELE UMWEGE, SAMMELTEN PILZE UND WURDEN ARGWÖHNISCH BEÄUGT: Fremde, Eindringlinge und Schmarotzer
VON ANDREAS HERGETH
In irgendeinem Dritten Programm läuft eigentlich immer eine dieser Rankingshows. Die 30 schönsten Schlösser Deutschlands, die Lieblingsspeisen der Hessen (oder eben anderer Bundeslandbewohner), die angesagtesten Ausflugsziele der Berliner und Brandenburger, die beliebtesten Autobahnen … Na ja, es gibt nichts, was es nicht gibt. Eine Art skurriles Bildungsfernsehen, das prima zum Hemdenbügeln taugt.
Einmal sah ich eine Sendung, in der es um die Dialekte im Deutschen ging. Erstaunlicherweise rangierte das Berlinern auf einem der vorderen Plätze, aber ich erinnere mich nicht mehr so genau daran. Dafür an etwas anderes: Im Mittelfeld von 30 Dialekten wurde für mich unerwartet vom Sprecher aus dem Off die schlesische Mundart angekündigt. Na, mal hören, wie das klingt, dachte ich erfreut. Denn meine Oma stammte aus Schlesien. Wie sie sprach, habe ich aber mit den Jahren vergessen; sie starb, als ich 14 Jahre alt war. Als eine alte Dame in einer Tracht Schlesisch zu sprechen begann, brach ich spontan in Tränen aus.
Ich musste in den letzten Tagen öfter an diese Begebenheit denken. Oma musste nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Heimat Schlesien verlassen. Sie war ein Flüchtling. Meine Mutter, bei Kriegsende gerade mal acht Jahre alt, war ein Flüchtling. Beide kamen auf ihrer Flucht über viele Umwege bis Mecklenburg. Drei Kilometer vor der späteren innerdeutschen Grenze fanden sie ein neues Zuhause. Und wurden viele Jahre von den Einheimischen argwöhnisch beäugt. Ich kann mich an die Erzählungen aus dieser Zeit gut erinnern. Die Flüchtlinge, die Vertriebenen, mochte keiner. Sie waren eine Last. Sie waren Fremde, Eindringlinge, Schmarotzer. Am eindrücklichsten blieb mir in Erinnerung, wie es laut Oma früher bei Beerdigungen im Dorf zugegangen ist. Auf der einen Seite des Grabes standen die Alteingesessenen. Auf der anderen die Flüchtlinge.
Letzte Woche war ich ein paar Tage im Urlaub, auf dem flachen Land, tief im alten Westen. Dort kocht mittags die Oma meines Mannes für uns, das ist heimelig und schön, nicht nur, weil es schmeckt. Einmal gab es Kartoffelpuffer. Wie es sich gehört mit Apfelmus dazu. Ich aber wollte auch Zucker haben, so kenne ich es seit Kindertagen. Die Oma wunderte sich: „Das essen so nur die Flüchtlinge.“
Ich fühlte mich irgendwie ertappt. „Ich bin ja auch ein Flüchtling“, hab ich augenzwinkernd gesagt und die Geschichte meiner Abstammung erzählt. Als ich Schlesien erwähnte, war alles klar. Und als das Sudentenland hinzukam, schloss sich der Kreis: „Die essen ja auch Waldpilze, das machen wir hier nicht, das haben nur die Flüchtlinge nach dem Krieg gemacht.“
Stimmt, ich liebe Pilze. Mein Vater hat sie leidenschaftlich gern gesammelt, ab Spätsommer gab es mehrmals die Woche Pilze, gebraten mit Zwiebeln und verquirlten Ei. Mein Vater kannte die besten Stellen im Wald. Er liebte den Wald. Warum, hat er mir nie erklärt, fragen war da zwecklos. Aber ich kann es mir denken. Er stammt aus dem Westerzgebirge, dem Teil, der heute in Tschechien liegt, und früher das Sudentenland war. Schönste Waldgegend.
Mein Vater war also auch ein Flüchtling. Er war neun, als der Faschismus besiegt wurde. Seine „Wege übers Land“ führten ihn ebenfalls nach Mecklenburg, wo er meine Mutter kennenlernte.
Die Flüchtlings- und Vertreibungsproblematik wurde in der späten DDR nicht thematisiert. Die ersten Jahre nach der Wende habe ich mich damit beschäftigt. Das Ergebnis: Ich scherzte dann ab und an, dass ich ja im Grunde genommen „doppelt Vertriebener dritten Grades“ wäre ...
Manchmal muss ich heute wieder an diesen Spruch denken. Zum Jubiläum des Kriegsendes vor 70 Jahren erging es mir so. Und auch, weil mein Vater vor Kurzem gestorben ist. Er findet seine letzte Ruhestätte nicht in dem Dorf, wo wir früher lebten. Das ist nie sein zweites Heimatdorf geworden, da wollte er nicht liegen. Wir bestatten Vater auf einem Waldfriedhof.
Die alten Flüchtlingsgeschichten kommen aber auch dann hoch, wenn wieder ein Boot voller Flüchtlinge im Mittelmeer kentert und Menschen auf der Flucht jämmerlich ertrinken. Oder dann, wenn dumme Zeitgenossen davon sprechen, dass die Flüchtlinge hier im reichen Deutschlands nichts zu suchen haben. Dabei haben auch sie ihre Heimat verlassen, aus der Not heraus, suchen Frieden, Glück, Wohlstand, eben ein normales Leben. Wie einst meine Eltern.
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