Friedensmanöver

Kreatürliche Solidarität: Andrea Breth bleibt mit „Minna von Barnhelm“ am Wiener Burgtheater ohne Fortune

Breth gerät folgenschwer über Kreuz mit dem bürgerlichen Aufklärer Lessing

Es ist eine von diesen traurigen Hotelhallen, in denen hinten links und vorne rechts Polstersitzgruppen stehen, dazu ein Betonkübel mit strapazierfähigem Grün, dazwischen trittschalldämmende Teppichbespannung – alles in gedeckten Farben: gesessen und vergessen. Zum Ort werden diese Transitflächen nur beim Abbrechen von Verkehrsströmen, wenn man etwa den falschen Pass hat oder Krieg ist. Der hängt expressiv in die Szene hinein (Bühne: Annette Muschertz), die vermutlich asbestverseuchte Deckenkonstruktion droht jeden Moment einzustürzen. Zwischen den Gipskartonplattentrümmern wuselt und wedelt der Wirt (Udo Samel): servierend, staubsaugend, seinen Vorteil in der Ökonomie des Krieges witternd. Sein Haus ist zerschossen, aber wertgesteigert. Mit schmierigen Strähnen, schmierigem Geschirrtuch und schmierigem Grinsen feiert er den Triumph des Provinzlers, der den Atem der Geschichte spürt. Die TV-Teams gehen, die peace keeping forces kommen, oder ist es umgekehrt? Dieser wunderbare Wüstensturm-Alberich hat noch gefehlt im Bild vom Stück zum Krieg, das unvermeidlich im Hotel situiert. Nur dort wird sichtbar, was der unmittelbaren Erfahrung längst enthoben ist. Was ist Krieg anderes als Peter Arnett auf dem Hoteldach über der brennenden Stadt?

Gegeben wurde „Minna von Barnhelm“ am Wiener Burgtheater in der Regie von Andrea Breth. Alles an diesem Bild und den folgenden Bildern an diesem Abend sagt nein. Zur Rückkehr des Krieges auf die politische Tagesordnung, zu seiner Medialisierung, die es erlaubt, von seinen Folgen zu abstrahieren. Den Schlüssel für die gesamte Aufführung liefert ein kurzer Auftritt am Beginn. Die „Dame in Trauer“ betritt die Halle. Andrea Clausen ist eine Kriegerwitwe mit Trauerflor, kurz angebunden in der Rede, hinter einer Maske von Entschlossenheit, Tag für Tag die nötigen Kalorien für ihren kleinen Sohn zu erlaufen. Sie hat noch ein offenes Geschäft mit Major von Tellheim, eine Schuld des verblichenen Gatten aus Friedenszeiten. Tellheim (Sven-Eric Bechtolf), der Schmerzensmann, unheldisch, so blass wie der Schlamm, durch den er kroch und dem er sich in der Substanz vollends angenähert hätte, wäre der Krieg weitergegangen, er erlässt der Witwe den ausstehenden Betrag, obwohl er selbst illiquid geworden ist. Was Lessing vermutlich als Bravourstück ziviler Integrität ausstellen wollte, als Heldentat zu Friedenszeiten, ist bei Bechtolf und Clausen nur ein Vorgang kreatürlicher Solidarität im Zwielicht der Hotelhalle.

Daran und nur daran will die Aufführung das Gerede vom Krieg von Gotthold Ephraim Lessing bis Joschka Fischer gemessen wissen. So gerät Andrea Breth folgenschwer über Kreuz mit dem sonst so geschätzten bürgerlichen Aufklärer. „Das Soldatenglück“ ist ohne Waffengang nicht zu machen. Das psychotherapeutische Abrüstungsmanöver des Majors von Tellheim setzt den Glauben an einen gerechten Krieg, zumindest aber an den Glauben international akzeptierter Spielregeln voraus. Nur aus der Regularität des Kämpfens, der Unterscheidung und Schonung von Zivilisten gegenüber Kombattanten, resultiert jener nebulöse Ehrbegriff, der Tellheim drei Stunden umtreibt, bis er sich endlich von Fräulein von Barnhelm (Sabine Haupt) in den Ehestand ziehen lässt.

Die Preußenliebe deutscher Geister von Lessing bis Friedrich Engels mag im Nachhinein verfehlt und gemessen an deutscher Geschichte gefährlich erscheinen. Doch man muss ihnen zugestehen, dass ihre Kriege andere waren, sowohl die der Deutschen des 20. Jahrhundert als auch die der heutigen Kollateralschadensverursacher. Breth setzt zwei deutsche Ideologien – Preußen und den pazifistischen Konsens der alten Bundesrepublik – nur stumpf gegeneinander und büßt dabei das analytische Moment ein, das ihre Theatertexterkundungen für gewöhnlich auszeichnet. Der Widerspruch im Inhalt und die Affirmation in der Form, dem Text dienen und geschlossene Figuren zeichnen zu wollen, laufen unrettbar auseinander. Da hilft selbst die atmosphärische Wirkung des altehrwürdigen Burgtheaters nicht mehr. Hier kollabiert ein Begriff von Theater bei aller Virtuosität im Spiel an seinen eigenen Voraussetzungen.

Wo die Haltung der Alten zum Krieg inakzeptabel wird und die unmittelbare Erfahrung mit dem Krieg derzeit glücklicherweise kaum möglich ist, tritt in „Minna von Barnhelm“ eine eigenwillige, bisweilen durchaus subtile Kollage von Filmbildern an deren Stelle. Tellheims Bedienter Just (Markus Meyer) mit Ray-Ban-Brille und obligatorischer Hundemarke scheint gerade den kambodschanischen Sümpfen entronnen, während Cornelius Obonya als gutmütiger Wachtmeister Werner die ironisch distanzierte Preußencharge zeigt, bevor auch er sich den Frauenzimmerchen hingibt.

Sabine Haupts Minna und ihre Begleiterin Franziska (Pauline Knof) suchen den Esprit und die Leichtigkeit der Frauenfiguren aus dem Hollywood der Vierzigerjahre; Screwball werfend spielen sie auch ohne Mann etwas vom „Dünnen Mann“. Zum Schluss geht’s halt nicht auf. Die Myrna-Loy-Nummer findet ohne William Powell statt. Deutsche Helden haben Schmerzen, und bis sie ironiefähig werden, braucht es noch einmal fünfzig Jahre Frieden und Westintegration. UWE MATTHEISS