: Nicht die volle Wahrheit
ANERKENNUNG Das koloniale Deutschland auf Berlins Straßen: Joshua Kwesi Aikins kennt dessen Zeichen genau, macht es kenntlich
■ wird auf dem taz.lab einen der sechs Stadtrundgänge zur Mittagszeit anbieten. Titel „Die Alltägliche Gegenwart der kolonialen Vergangenheit“ (11.45 Uhr).
VON MANUEL INSBERG
Es ist bitterkalt, vereinzelt fallen Schneeflocken, plötzlich donnert ein Flugzeug über die Dächer von Berlin-Tegel. Eine Gruppe junger Menschen steht vor einem Kiosk an der Afrikanischen Straße und hört sehr interessiert dem Vortrag von Joshua Kwesi Aikins zu. Trotz frostigen Wetters freut sich der 32-jährige Stadterklärer, mit seinem Publikum einen Rundgang durch das Afrikanische Viertel in Berlin zu unternehmen.
Sein Thema: deutscher Kolonialismus und deutscher Alltagsrassismus. Das ist die Materie, der sich die Führung durch dieses bezeichnende Viertel widmet. Ob Togo- oder Ghanastraße, an jeder Ecke hat Aikins große Zusammenhänge zu erläutern, kleine Anekdoten zu erzählen. Seine Stimme klingt ruhig, die Antworten wohlüberlegt. Seinen Lebensunterhalt kann der Familienvater mit den Streifzügen nicht bestreiten, aber er macht, was er machen muss: Dieses Thema ist ihm Passion.
In Westberlin aufgewachsen als Sohn ghanaischer Einwanderer, war er seit Kindertagen mit Rassistischem konfrontiert. Als Neunjähriger jubelte er über den Mauerfall wie alle Deutschen, der er eben ist – und musste doch erleben, dass gerade Menschen wie er nun weniger gelten sollten. Obendrein, so sagt Aikins, Doktorand an der Universität Bielefeld, „wurde im Geschichtsunterricht nicht die ganze Wahrheit vermittelt“. Darüber, wie Deutschland wurde, was es ist. Also einschließlich kolonialer Geschichte.
Mit Anfang zwanzig begann er mehr wissen zu wollen. Aikins schloss sich damals einer Projektgruppe zur Stärkung jugendlicher Schwarzer in Deutschland an. Sie alle begannen zu forschen. Und fanden immer mehr Verbindungen der heutigen Straßennamen Berlins mit der Kolonial- und der NS-Zeit heraus. 2006 gründete Aikins schließlich mit anderen die Straßeninitiative Berlin, die „erinnerungspolitische Intervention durchsetzen will“. Ihr größter Erfolg war die Umbenennung des Gröbenufers nahe der Oberbaumbrücke in May-Ayim-Ufer, an der Aikins maßgeblich beteiligt war. Dieser Straßenname, welcher bis 2009 noch an den Kolonialherren Otto Friedrich von der Gröben erinnerte, ehrt nun die afrodeutsche Poetin May Ayim.
Aikins findet sowieso, dass keine deutsche Straße nach Nazigrößen benannt bleiben sollte. Mehr noch: Auch Kolonialverbrecher sollten von den Straßenschildern verschwinden. „Straßennamen sind Ehrungen“ – und die hätten sie nicht verdient. Nennungen von ehemaligen Kolonien sieht Aikins nicht als Problem. Sie sollten vielmehr kommentiert und aus neuer Perspektive betrachtet werden.
Es bedeutet für Aikins einerseits eine „symbolische Reparation“ deutscher Kolonialzeit. Andererseits den ersten Schritt, die Aufmerksamkeit auf kolonialen Rassismus in unser aller Alltag zu lenken. Kolonialismus ist „keine abgeschlossene Geschichte“.