Bewusstlose Rituale unter dem Tannenbaum

In den Siebzigerjahren musste man am Heiligen Abend unbedingt Rockmusik hören und saufen, nach Hause zu den Eltern fahren war verpönt. Dabei bedeutet eine solche Reise, seine eigene Herkunft zu erfahren, ob nun als Last oder Glück. Besser hinfahren und aushalten, als vor den eigenen ambivalenten Gefühlen wegzulaufen

VON CHRISTIAN SCHNEIDER

Ich glaube, es war 1970, möglicherweise auch – aber das spielt keine Rolle – ein Jahr früher oder später. Damals war der heranrückende Weihnachtstag für mich eine Art D-Day. Kein heiß erwartetes Fest der Freude, sondern etwas Monströses, auf unklare Art Bedrohliches. Denn es begab sich zu jener Zeit, dass man gegen das so genannte Bürgerliche aufbegehrte und mit spät adoleszentem Ernst versuchte, sich alles, was auch nur entfernt danach roch oder schmeckte, vom Leibe zu halten. Da war Weihnachten natürlich ein kapitales Problem. Denn was konnte schon bürgerlicher – kleinbürgerlicher gar – sein als das allerchristlichste Fest samt dem dazugehörigen, den Kapitalismus ankurbelnden und die Hungernden in der Welt verhöhnenden Kaufrausch?

Kuschelig und kitschig

Weihnachten: Das war kirchlich und konservativ, kapitalistischer Konsumterror und überdies kuschelig und kitschig: ein einziger Abgrund von fiesen K-Wörtern. Und, um die Sache vollends auf die Spitze zu treiben: das „Fest der Familie“ mitsamt der Obligation, die Feier mit ihr zu verbringen. Der schrecklichste der Schrecken aber war damals genau das: in den Schoß der Familie zurückkriechen zu müssen. Beileibe nicht nur aus allein persönlichen Motiven. Hatte nicht schon der alte Friedrich Engels die Familie hinlänglich entlarvt? War sie nicht als Teil des historischen Trio infernale – in Engels’ Frage nach dem „Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates“ – die eigentliche Keimzelle von Kapitalismus und Unterdrückung? War sie nicht auch der entscheidende Wegbereiter in den autoritären, den faschistischen Staat, wie man den Schriften der Frankfurter Theoretiker um Max Horkheimer („Autorität und Familie“) entnehmen konnte? Und schließlich, ganz am Ende dieser Schreckensbilanz, die eigene Familie: Hatte man unter ihr nicht gelitten wie ein Hund?

Die Frage, wie man Weihnachten und der festlich versammelten Familie entgehen konnte, war durchaus keine nebensächliche. Die Lösung, die wir fanden, war so originell wie die von x Studentengenerationen davor und danach: Man rottete sich zusammen, gab sich betont unchristlich, unfeierlich, unbürgerlich – und feierte „alternativ“. Was, wenn ich mich recht erinnere, auf das ziemlich uninspirierte kollektive Vertilgen gewaltiger Alkoholmengen zu überlauter Rockmusik hinauslief. Das bedrohliche Fest war wohl nur mit Krach und Rausch aus den Köpfen zu bekommen: mit dem, was die Eltern einem immer verboten hatten.

Wie sehr wir ihre Macht fürchteten, kann man an unseren damaligen „Unvereinbarkeitsbeschlüssen“ sehen: Niemand, der vorher der familiären Konvention Genüge getan hatte, war bei unserem Antifest zugelassen. „Das fehlt gerade, dass du noch mit Lametta im Haar hier dazukommst“, wurde einem entgegengehalten, der dringend darum nachsuchte, sich mit uns gemeinsam vom Schrecken der Familienfeier erholen zu können. Nicht mit uns! An dem Punkt gab es keine Verhandlungsbereitschaft.

Im Grunde hielten wir es wie jene archaischen Stammeskulturen, die den zur Jagd oder in den Krieg ausgezogenen Männern langwierige Rituale aufnötigen, wenn sie nach der Tötung von Tier oder Mensch in den friedlichen Schoß der Gemeinschaft zurückkehren wollen. Nur dass wir radikaler waren: Uns schien kein Reinigungsritual gründlich genug, um die Flecken der familiären Beschmutzung noch am Heiligen Abend zu tilgen. Wir gebärdeten uns tatsächlich so, als müssten wir den Tod draußen halten. Waren unsere Familien wirklich so gefährlich – so mörderisch gefährlich? Oder nur wir hysterisch?

Um mich im Nachhinein wenigstens ein bisschen zu entlasten: Damals tat man sich mit den Familien tatsächlich schwerer als heute. Weihnachten 1970 wusste jedenfalls keiner von uns so genau, wer diese Eltern eigentlich waren. Natürlich wusste man einiges über Mamis und Papis Leben vor unserer Geburt: die Tanzstunde, die Schule, die Verlobung. Aber Entscheidendes auch nicht. Was, zum Beispiel, hatte der Vater während des Krieges in Russland und Litauen, was die Mutter an der „Heimatfront“ getan? Selbst die einschlägigen Fotos im Familienalbum blieben unkommentiert und lösten bei Nachfragen allenfalls Einsilbiges aus. Wie auch immer: Die im Dunkeln liegenden Teile der familiären Vorgeschichte gaben mächtig Stoff für Fantasien, die das eigene ödipale Drama zum weltgeschichtlichen überhöhten.

Fest der Rückkehr

Auch wenn wir Weihnachten zu Recht als Familienfest begreifen: In seiner tieferen Schicht ist es ein Fest der Rückkehr – und der Wiedergeburt. Nicht, weil es alljährlich wiederholt wird, sondern weil es ein Erinnerungsreservoir der eigenen Kindheit darstellt. Das Christkind, dessen Geburt wir feiern, sind immer auch wir selbst: der kleine Träger von Hoffnung auf Erlösung und Allmacht, der wir – in den Augen unserer Eltern und in den eigenen infantilen Größenfantasien – einmal waren. Mit jedem Weihnachtsfest kehren wir feierlich an den Anfang unseres Lebens zurück – und vollziehen damit unbewusst eine der wesentlichen Kulturleistungen.

Keine Kultur kann ohne kollektive Selbstvergewisserungsrituale der bedeutsamen biografischen Stationen des Lebens auskommen. Insbesondere dessen Extrempunkte, Geburt und Tod, bedürfen der rituellen Wiederholung, damit sie als Teil des Lebenskontinuums gedacht werden können. In allen uns bekannten Kulturen sind Geburt und Tod in sinnverbürgende Rituale eingetragen: Rituale zumal, die ein Heilsversprechen transportieren, das die Zeit zwischen Anfang und Ende mit einem Auftrag und einem Ziel versieht. Ohne die kulturelle Repräsentation von Anfang, Ende und (überindividuellem) Sinn ist keine „Gemeinschaft“ möglich.

In unserem Kulturkreis gehört Weihnachten zu diesen Sinn stiftenden Ritualen. Es ist als Feier einer Geburt deshalb beileibe nicht nur ein Fest des Anfangs. Das garantiert schon unser kulturelles Wissen: So wie wir die Geburt des Erlösers historisch mit dem massenhaften Kindesmord des Herodes verknüpfen, so ist sie kulturell nicht ohne die künftige Passion Christi zu denken. Schon die Feier der Geburt enthält ein Memento mori. Deshalb die eigentümliche Melancholie, die das „Fest der Freude“ durchzieht.

Gerüche und Klänge

All das verdichtet sich – ohne dass auch nur einer der Beteiligten diese Implikationen zu denken bräuchte – unter dem Weihnachtsbaum. Selbstverständlich nehmen wir dort weder den kulturellen Rahmen noch die Bedeutungen des Rituals wahr. Wir beschränken uns darauf – das ist der Sinn von Ritualen –, es zu vollziehen, gleichsam bewusstlos.

Was wir stattdessen in uns aufnehmen, sind die Gerüche, die Klänge, die Begehrlichkeiten unserer Kindheit. Wenn wir uns unter dem immergrünen Tannenbaum unserer Herkunftsfamilie versammeln, tauchen wir unfehlbar in die eigene Geschichte ein und in der familiären unter. Der Ort des Ursprungs ist notwendig ambivalent, weil er ursprünglich den Beginn alles Guten wie alles Schlechten, das wir im Leben erfahren haben, repräsentiert. An ihn zurückzukehren heißt immer auch, die Fallhöhe zwischen den initialen Hoffnungen und dem Erreichten auszumessen. Dies im Kreise der Familie zu tun bedeutet unweigerlich, sich der Melancholie auszuliefern: Ob es nun der Schmerz ist, vom Leben enttäuscht zu sein, oder die Melancholie der Erfüllung: Im familiären Weihnachtsritual stoßen wir auf den unergründlichen Bodensatz von „Heimat“.

Heimat ist zuallererst der Ort jener Begrenztheit, deren Grenzen von der Familie festgelegt worden sind. Im weihnachtlichen Ritual werden wir mit dem Leben selbst konfrontiert – im Schatten der kulturellen Tradition und bewacht von der Familie: Man kann nicht entkommen. Nirgendwo deutlicher als unterm Christbaum spüren wir unsere Herkunft: ob als Last oder Glück, jedenfalls als schicksalhaftes, unumgängliches Apriori unseres Lebens. Wir tun es nicht zuletzt, weil wir von Jahr zu Jahr unsere Vorfahren, unsere Geschwister älter werden sehen. Konfrontiert mit der unerbittlichen Arbeit der Zeit erleben wir auf der familiären Bühne das Altern der Chargen und den Wandel der Rollen – und damit die Kraft des Lebenszyklus und der Tradition. Im alljährlichen Fest der Geburt des Erlösers haben wir das Gefühl, ihnen nachzufolgen: Wir sind – ob wir es wollen oder nicht – „irgendwo“ so wie sie.

1970 war dieser Gedanke unerträglich. Nicht nur, weil wir berechtigte Angst vor den (Un-)Tiefen unserer Vorgeschichte hatten. Sondern, weil uns die Konfrontation mit der Familie vielleicht zur unbequemen Erkenntnis gezwungen hätte, dass wir noch gar kein vorweisbares Leben hatten. Das muss selbst die erschreckt haben, die mit allem „Bürgerlichen“ aufräumen wollten und die Heimat vertrieben hatten. Wenigstens aus ihrem aktiven Wortschatz.