berliner szenenSanta-Phänomenologie

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Der traurige Weihnachtsmann mit traurigem Gesicht spielt traurige russische Volkslieder auf einem Akkordeon in der U-Bahn-Station Tempelhof. Ich bin auf dem Weg zum Zahnarzt. Als ich einen Euro in seinen Hut werfe, verbeugt er sich. Er lächelt nicht dabei. Er trägt einen sehr abgewetzten und schmuddeligen roten Weihnachtsmannmantel. Seine roten Schlafanzughosen hängen zu groß an seinen Beinen herunter. Sein Bart sieht aus wie eine nass gewordene Daunendecke, schmutzig-weiß und zerfranst. Ich bleibe trotzdem eine Weile vor ihm stehen und höre zu – so eilig habe ich es nicht, zum Zahnarzt zu kommen, und ich will schließlich auch etwas geboten bekommen für mein Geld.

Vielleicht macht er ja was Komisches, wenn niemand hinschaut. Von meiner Zeitung aus kann ich ihn gut aus den Augenwinkeln beobachten, aber er spielt nur traurig weiter. Nach einer Viertelstunde steige ich doch in eine U-Bahn.

Vor Karstadt am Herrmannplatz ist der zweite Weihnachtsmann des heutigen Tages postiert. Er sieht zufrieden aus. Sein Bart glänzt, man kann seinen Mund nicht sehen, aber die Augen verraten, dass er lächelt. „Willst du mich verarschen?“, schnauzt ihn ein Mann an, der gerade an ihm vorbeigeht. Da kichert der Weihnachtsmann, der Zipfel seiner Mütze bebt. Ich bleibe ein paar Meter vor ihm stehen und gucke. Er tänzelt ein wenig nach rechts, nach links, nuschelt den Passanten etwas durch seinen Bart zu und ist durch und durch fröhlich. Als ich an ihm vorbeigehe, hält er mich an meinem Jackenärmel fest und drückt mir einen Werbezettel für die Erotikabteilung bei Karstadt in die Hand. Vibratoren ab 20 Euro. Er zwinkert mir zu.

MAREIKE BARMEYER