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fleisch! von JOACHIM SCHULZ

„Ich … äh … öh …“ Draußen vor der Tür steht Robert. Unangekündigt, wie immer. Er trägt eine schwere Tasche, seine Augen sind blutunterlaufen, seine Mundwinkel zucken, und ich weiß, was das zu bedeuten hat. „Robert!“, sage ich also und strahle: „Wie schön! Komm doch rein!“

Ich hatte geplant, zum Abendessen die Reste eines missratenen Gemüseauflaufs von gestern aufzuwärmen. Er schmeckte so langweilig, als ob er auf einer Autobahnraststätte hergestellt worden wäre. „Was für ein Debakel!“, hatte ich beim Essen geseufzt: „Wie konnte mir so was passieren?“ Das Allerschlimmste aber war, dass der Auflauf für zwei Mahlzeiten reichte, und so hatte ich – beherrscht vom Gedanken an das freudlose Abendessen, das mir bevorstand – den ganzen Tag lang schwermütig aus der Wäsche gekuckt.

Mit Roberts Ankunft aber ist aller Trübsinn verflogen. „Kann ich dir helfen?“, frage ich gelöst, während ich ihn in die Küche geleite. Robert indes schüttelt den Kopf, zieht eine Flasche Wein aus der Kiste und gibt ein paar krächzende Laute von sich, die auch ein Experte für schwere Artikulationsstörungen nicht entschlüsseln könnte. Ich aber weiß, was er sagt: „Auf gar keinen Fall!“, sagt er nämlich: „Trink schon mal einen Schluck. Und danke, dass ich deine Küche benutzen darf – du bist ein echter Freund!“

Diskret ziehe ich mich aufs Sofa zurück und verkoste den guten Roten. Ich streife durch die Geschichte von Roberts Besuchen, erinnere mich des phänomenalen Filets Wellington, mit dem er mir einmal einen verkorksten Tag in einem dunklen Winter rettete, und schwärme in Gedanken von seinem Lammragout mit Sesam und Wermut – einem Gericht, das selbst im Schlaraffenland nur an hohen Feiertagen serviert werden dürfte. Und was weht da aus der Küche herüber? Es ist der Duft von … „Porterhousesteaks! Er macht seine sagenhaften Porterhousesteaks!“, flüstere ich: „Schicksalsgötter, ich danke euch!“

Wenig später sitzen wir am Tisch. Ich schmause und versuche, meine Verzückung in Worte zu fassen. Robert indessen schweigt. Gierig verspachtelt er sein Steak, und in seinem Auge glänzt eine Träne. Eine Träne des Glücks? Eine Träne der Verzweiflung? Ich weiß es nicht. Denn eigentlich ist Robert Vegetarier. Strenger Vegetarier. „Tiere“, sagt er, „sind unsere Freunde. Und seine Freunde isst man nicht.“ Alle paar Monate aber packt ihn eine Gier, der er nicht widerstehen kann. „Ich“, schluchzt er in klaren Momenten, „bin ein Anfallsfleischfresser, ein Quartalskarnivore, ein blutrünstiger Psychopath!“ Dann schnappt er sich seine Tasche, stiefelt zum Metzger seines Vertrauens und fährt zu mir, um seine Küche nicht zum Tatort dieses Frevels machen zu müssen. Ich öffne ihm dann gern die Tür und staune jedes Mal, wie unglaublich lecker so eine schreckliche Todsünde sein kann.

Aber auch ich habe dafür zu bezahlen. Nicht nur damit, dass ich den langweiligen Auflauf am nächsten Abend doch noch essen muss. Denn am nächsten Abend klingelt auch das Telefon, und dann werde ich meinem zerknirschten und schwer betrunkenen Freund Robert wieder einmal bis tief in die Nacht bei einem nicht enden wollenden Trommelfeuer von Selbstbeschimpfungen zuhören dürfen.

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