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: Zugfahrt ins Glück

CHRISTOPH BIERMANN beantwortet die Frage, ob man immer bis zum Schlusspfiff bleiben muss

Vor mehr als drei Jahrzehnten habe ich den Schwur abgelegt, ein Stadion nicht mehr vorm Schlusspfiff zu verlassen. Damals hatte Theo Homann für Westfalia Herne in der Nachspielzeit noch den Siegtreffer gegen Wattenscheid 09 geschossen. Doch wir hatten das Tor nur gehört, weil mein Onkel früh am Auto sein wollte. Da Bilder von Regionalligaspielen damals im Fernsehen nur selten gezeigt wurden, wird dieses Tor für mich für immer ungesehen bleiben. Das ist mir danach nicht mehr passiert, weshalb ich auch eine 1:7-Niederlage (oder war es gar ein 0:7?) des VfL Bochum am Bökelberg bis zur letzten Minute tapfer ertrug. Was auf den Tisch kommt, wird auch aufgegessen.

Vorher das Stadion verlasse ich nur dann, wenn mir das Ergebnis egal ist. Gerd aber war es gewiss nicht egal, wie das Spiel in der Champions League zwischen Werder Bremen und Panathinaikos Athen ausgehen würde. Schließlich hing auch davon ab, ob Werder nach der Winterpause im aufregendsten Fußball-Wettbewerb der Welt würde weiterspielen dürfen. 3:0 führten seine Jungs zur Pause, da sollte nicht mehr viel anbrennen, zumal die Griechen am Spielausgang desinteressiert schienen.

Also beratschlagten Gerd und sein Bruder Günther, was zu tun sei. Die letzte Zugverbindung zwischen der Hansestadt Bremen und Leer in Ostfriesland besteht nämlich abends um 21.51 Uhr. Gut 70 Minuten ist man im Intercity bis Oldenburg und dann mit den Regionalexpress bis Leer unterwegs. Da Spiele in der Champions League um 20.45 Uhr angepfiffen werden, geht der letzte Zug für Gerd 20 Minuten nach dem Halbzeitpfiff.

Anschließend gibt es erst um vier Uhr morgens wieder eine Verbindung, und aufs Bahnfahren ist Gerd angewiesen, weil er seit seinem Autounfall nicht mehr selber fahren möchte. Manchmal legt Bruder Günther auf seinem Rückweg nach Köln eine Zwischenstation in Leer ein, oder Gerd bleibt bis zum Abpfiff und fährt mit dem letzten Zug nur bis Oldenburg, wo er sich für 75 Euro ein Taxi nach Hause gönnt. Warum sollte er jetzt noch bleiben, wo der Sieg feststand? Obwohl: Auch beim vorangegangenen Heimspiel hatte es zur Pause 3:0 für Bremen gestanden.

Günther hatte ihn damals heimgeschickt und Gerd eine der dramatischsten Halbzeiten der Vereinsgeschichte verpasst, in der Udine innerhalb von sieben Minuten ausglich, Werder aber noch 4:3 gewann.

Jetzt aber schien nur noch von Belang, ob Barcelona mit einem Sieg in Udine helfen würde. Also verließ Gerd das Stadion und eilte zum Bahnhof, nahm Platz in Zug und hörte das Spiel im Radio weiter. Werder schoss noch ein viertes und fünftes Tor, auch die Griechen trafen, doch Gerd konnte mithören, wie es im Weserstadion leise wurde. Ohne einen Sieg von Barcelona in Norditalien könnte Werder noch zehn Tore schießen, ohne weiterzukommen – und in der Ferne blieb es weiter torlos.

Nur wenige Minuten waren noch zu spielen, als Gerd in Oldenburg die Treppe zum Bahnsteig erklomm und sein Regionalexpress einfuhr. Auf den letzten Stufen brach er in Jubel aus, der Lokführer sah ihn in seinem grün-weißen Schal und winkte Gerd aufgeregt zu sich. Er solle einfach reinkommen, für einen ordentlichen Zustieg sei es sowieso zu spät. Wahrscheinlich war das geschummelt, denn der Lokführer war ebenfalls Werder-Fan, und so hörten die beiden zwischen Oldenburg und Bad Zwischenahn, wie die Spanier bei Udine dem ersten noch ein zweites Tor anfügten und Bremen es wirklich geschafft hatte. Auch die verbleibende halbe Stunde durfte Gerd auf der Lok blieben und rollte glücklich in Leer ein.

Er hatte eine vorweihnachtliche Bescherung erlebt. Für alle anderen aber gilt: Nie vor dem Abpfiff gehen!

Fotohinweis: Christoph Biermann, 44, liebt Fußball und schreibt darüber