Die Inszenierung von Authentizität

GRATWANDERUNG Der österreichische Filmemacher Ulrich Seidl bekommt heute den 12. Bremer Filmpreis überreicht. Seine Filme stellen die Unterscheidung zwischen Dokumentation und Fiktion in Frage

Dass sich die Filme nie ganz eindeutig lesen lassen, macht ihre Poesie und ihren Reiz aus

Er macht Bilder, bei denen wir am liebsten gleich weggucken würden, nur um dann doch mit zunehmender Faszination hinzusehen. Bei den Filmen des österreichischen Filmemachers Ulrich Seidl wird man immer in die Rolle des Voyeurs gedrängt. Oft segelt Seidl hart an der Ekelgrenze entlang, in seinem ersten Erfolgsfilm „Tierische Liebe“ zeigt er etwa, wieweit die durchaus auch körperliche Liebe von einsamen Menschen zu ihren Haustieren gehen kann. Der Film wurde 1995 für das österreichische Fernsehen produziert, dann aber nicht ausgestrahlt.

Das wurde inzwischen längst nachgeholt, denn Seidl ist arriviert und hat 2001 mit seinem ersten Spielfilm „Hundstage“ bei den Filmfestspielen in Venedig den Großen Preis der Jury bekommen. Aber diese Formulierung „erster Spielfilm“, die in allen Biografien und Filmografien auftaucht, führt in die Irre. Denn Seidl bewegte sich immer zwischen Dokumentation und Fiktion. In seinen früheren Filmen hat er Laiendarsteller in ihrem Milieu aufgenommen, die dann aber von ihm inszenierte Szenen spielten. So kann man nie genau sagen, ob ein Säuferpaar, das sich in „Tierische Liebe“ um ihr Frettchen streitet, tatsächlich so schäbig ist, oder ob das Chaos um die beiden herum kunstvoll und extrem glaubwürdig arrangiert wurde.

Seidls Stil erinnert nur oberflächlich an die Doku-Soaps im Privatfernsehen, denn er verfremdet seine Sequenzen durch lange, statische Einstellungen, eine stilisierte Lichtsetzung, die viel Distanz zu den Bildern schafft und einen schroffen Schnitt, der seine Filme fast zu zerstückeln scheint. In „Models“ von 1998 werden junge, mäßig erfolgreiche Fotomodelle am liebsten durch Kameras beobachtet, die hinter Spiegeln verborgen sind. Die drei Darstellerinnen, die sich da im vielfachen Sinne des Wortes entblößen, kann man für diesen Mut zur eigenen Hässlichkeit nur bewundern. Aber die Frage bleibt unbeantwortet, ob sie genau so, wie wir sie beim beim Schminken, Koksen, Lästern übereinander und Begrabschtwerden durch den Fotografen sehen, auch gesehen werden wollten, oder ob Seidl sie doch vorführt. Darüber redet der Regisseur nicht – und es ist klug, wenn er sich da nicht in die Karten schauen lässt, denn gerade, dass sich seine Filme nie ganz eindeutig lesen lassen, macht ihre Poesie und ihren Reiz aus.

Doch auch wenn Seidl nicht mehr so umstritten ist wie in den 90er Jahren, als seine Filme ohne die vehemente Fürsprache von Werner Herzog vielleicht gar nicht in die Kinos gekommen wären, ist es eine originelle und kantige Entscheidung der Jury, ihm den 12. Bremer Filmpreis zu verleihen. Nach dem ersten Prämierten, Bruno Ganz, bekamen oft eigenwillige und unbequeme Künstler wie Agnés Varda, Marcel Ophüls, die Gebrüder Dardenne, Ken Loach und Lars von Trier den mit 8.000 Euro dotierten und von der Bremer Sparkasse gestifteten Preis für „langjährige Verdienste um den europäischen Film“. Die taz-Filmredakteurin Christina Nord, der Filmemacher Pepe Danquart und der Direktor des Film & Fernsehmuseums Berlin, Rainer Rother, führen nun diese gute Tradition des Preises fort. In ihrer Begründung steht: „Seidl verfolgt das seltene Ziel, Würde dort herzustellen, wo die Verhältnisse keine Würde kennen.“

Mit der heutigen Preisverleihung in der altehrwürdigen oberen Rathaushalle beginnt in Bremen ein Film-Symposium, das inzwischen zum 15. Mal im Bremer Kommunalkino, dem Kino 46 abgehalten wird und in diesem Jahr unter dem Motto „Public Enemies“ steht. Eine kleine Werkschau mit Seidl-Filmen läuft dort bis in den frühen Februar hinein. WILFRIED HIPPEN