Eine Locke geht auf Reisen

In der westlichen Welt ist einfach alles käuflich. Wird das Kopfhaar dünn und braucht ein bisschen Auffrischung – kein Problem, dafür gibt es ja indisches Haar. Nachdem die Stars des Showbusiness die Schönheit dieser dicken, welligen Haare für sich entdeckt haben, will es hier jedefrau und jedermann gern haben.

Keine Frage, Inderinnen haben wunderbare Haare. Aber auch für indische Männer ist üppiges Haupthaar wichtig. So auszusehen wie John Travolta in „Saturday Night Fever“ ist immer noch modern.

Dennoch sind neben geschliffenen Diamanten, Software und Computerexperten indische Haare zu einem Exportschlager geworden. Sie sind von außerordentlicher Qualität und kaum chemisch behandelt. Dafür werden sie weltweit geliebt. 2003 wurden indische Haare im Wert von 50 Millionen Euros exportiert, 2004 waren es schon 80 Millionen. Meist werden die Strähnen in die Provinz Henan in China gebracht und zu Perücken und Haarteilen verarbeitet. Die besten Stücke finden in der amerikanischen oder europäischen Mode- und Filmbranche reißenden Absatz – zumal sie zehnmal billiger sind als die Konkurrenz.

Wo aber kommen die indischen Haare eigentlich her? Zum Teil aus Tempeln. Es ist eine alte hinduistische Tradition, sich die Haare in einem Tempel vom Haupt rasieren zu lassen, um sie den Göttern zu opfern. Nun sind sie eine wichtige Einnahmequelle, etwa für den großen Tempelkomplex Tirumala Tirupati Devasthanam im Süden des Bundesstaates Andra Pradesh. Was Mekka für die Muslime oder Rom für die Katholiken ist, das ist dieser Tempel für die Hindus. Jeden Tag kommen wenigstens 25.000 Pilger dorthin. Jeder von ihnen kann im Tempel umsonst essen und schlafen – nahe dem heiligen Schrein.

Der Tempelkomplex wird aus Ersparnissen und Spenden finanziert. Er ist einer der reichsten religiösen Zentren der Welt und bekannt für seine wohltätigen Projekte: meist Schulen und Gesundheitsprogramme. All das geschieht im Namen des Gottes der Güte, Sri Venkateswara, der auch sehr mächtig ist. Sein Blick soll so stark sein, dass er Menschen damit vernichten kann. Selbst auf Bildern sind daher seine Augen immer verdeckt. Bevor die Pilger die heiligsten Bereiche betreten dürfen, müssen sie sich in eine spezielle Halle begeben. Dort reihen sie sich in eine der Schlangen ein. Wenn sie an der Reihe sind, setzen sie sich auf einen hölzernen Stuhl und beugen ihr Haupt, damit der Barbier ihre Haare abrasieren kann.

Insgesamt arbeiten im Tempel 650 Barbiere. Jeder von ihnen muss sechs Stunden am Tag Köpfe rasieren, wobei er sechs oder sieben in der Stunde schafft. Tag für Tag werden über 20.000 Rasierklingen verbraucht, denn jede Klinge wird nur einmal benutzt.

Für die Pilger ist der Verlust ihrer Haare ein wesentlicher Bestandteil ihres rituellen Reinigungsprozesses. Sie bieten ihr Haar, um einen Gott wohlwollend zu stimmen. Oft bittet eine Mutter, dass ihr Sohn bei einer Bewerbung Erfolg hat, oder ein Enkel, dass seine Großmutter wieder gesund wird. Dieses Ritual wird auch in vielen anderen Tempeln Asiens durchgeführt. Doch nirgends wird so viel Haar gesammelt wie in Tirumala Tirupati: durchschnittlich eine Tonne am Tag.

Fotos oder Filmaufnahmen von dem Rasierritual sind streng verboten – allerdings erst seit letztem Jahr. Damals hatten orthodoxe Rabbiner eine Dokumentation über den Tempel gesehen und waren schockiert darüber gewesen, dass die Perücken für ihre Frauen aus Hindu-Haar gemacht waren. Sie ließen tausende teurer Perücken verbrennen und kauften neue in Europa. Die Inder reagierten prompt und luden die Rabbiner in den Tempel ein, damit sie sehen konnten, dass die Sammlung des Haupthaares nicht Teil eines religiösen Rituals ist. Das überzeugte die Rabbiner – und sie bestellten wieder in Indien.

Für die Hindus ist der Haarhandel kein ethisches Problem. Auf die Frage eines Kaufmanns sagte ein Guru: „Wenn wir die Haare nicht verkaufen, landen sie doch nur auf der Straße. Stellen Sie sich vor, die Haare von Millionen von Menschen auf unseren Straßen. Was für eine Schweinerei.“ Dann doch lieber die Haare verkaufen. Der Tirumala-Tirupati-Tempel lässt sie also auf Auktionen versteigern, bei der die Händler rund 175 Euro für ein Kilo bester Qualität (mindestens 40 cm lang) zahlen müssen.

Die meisten Pilger wissen zwar nicht, dass ihr Haar zu Geld gemacht wird. Aber selbst wenn sie es mitbekommen, fürchten die Tempelmanager keine Probleme. Denn das Geld investierten sie ja in gute Projekte. Und: Da der Haarmarkt boomt, können sie bestimmt schon bald noch mehr Schulen und Krankenhäuser für die Armen finanzieren. HANS VAN SCHAREN

Übersetzt und bearbeitet von Daniel Haufler