Der große Marsch

Mein Bruder, die „Sisal“-Mädchen, unsere Kindheit und die Affen:Joachim Lottmanns traditioneller Weihnachtsbummel durch das feindliche Kaufhausviertel

VON JOACHIM LOTTMANN

Ich mag meinen Bruder. Ich lief die Treppe hinunter, durch das schöne alte, unsanierte DDR-Treppenhaus, und sah schon sein Auto. Ein schicker Ford Mondeo, dunkelblau, ein Kombi, mit Servolenkung, Baujahr 1993. Vorher hatte er ein rotes Modell gehabt, noch besser, keine acht Jahre alt, aber das war in Polen leider gestohlen worden. Er saß am Steuer und lächelte mich nett an. Mein Bruder. Gut sah er aus.

Die allerbeste Nachricht hatte ich erst eine Stunde vorher gekriegt: Er konnte wieder laufen! Ein halbes Jahr lang war er Invalide gewesen. Nach einem so genannten Sportunfall beim Beachvolleyball hatte er sich falsch operieren lassen und konnte seitdem das Bein nicht mehr bewegen. Natürlich sollte man keinen „Sport“ treiben, der für junge nackte Frauen erfunden worden war. Mein Bruder war schon über 40, näherte sich der magischen Zahl 50, die wir als Kinder immer als natürliches Lebensende angesehen hatten. Offenbar zu Recht, denn ich hatte Eckart, so heißt mein Bruder, als Invaliden schon abgeschrieben. Nun ging es wieder. Zweite Operation, Arztklage, neues Leben. Und wir konnten unseren traditionellen Weihnachtsmarsch durchs feindliche Kaufhausviertel antreten. Das machten wir jedes Jahr seit 40 Jahren. Wie die Protestanten durch die Katholikenviertel in Nordirland. Völlig unerschrocken. Denn wir waren ja von Haus aus verschworene Antikonsumisten.

Wir fuhren erst mit dem Auto von der Kleinen Präsidentenstraße, wo ich wohnte, zur Rosenthaler Straße und parkten es vor dem „Sisal“, unserem Hausrestaurant. Jedes Jahr wurden im „Sisal“ neue Serviererinnen angestellt, die alle eines gemeinsam hatten: Sie waren vollkommen naiv. Sie wirkten so, als kämen sie direkt vom Mars und begegneten zum ersten Mal Menschen. Aber sie waren total nett und gaben dem Raum eine Stimmung des Neubeginns, der Euphorie, der Mitmenschlichkeit. Gelebter Humanismus sozusagen. Das mochten mein Bruder und ich.

„Ich gehe immer noch ins Sisal, die Tradition habe ich weitergeführt“, sagte Eckart unschuldig.

„Ich auch“, sagte ich und seufzte.

Wir schwiegen diskret. Das Wetter war wie immer bei unseren Weihnachtsmärschen: dunkel, nass, trostlos, eben nordirisch. Wir gingen zum Hackeschen Markt, am weißen Chamisso-Denkmal vorbei, durch den Monbijou-Park bis zur Spree und dann an der Museumsinsel und dem unruhigen Fluss entlang bis zum Bahnhof Friedrichstraße. Es blies ein ordentlicher Wind, aber wir waren furchtlos. In der Gegend Friedrichstraße kamen uns schon die ersten Konsumisten entgegen, manche sahen uns frech ins Gesicht, aber wir ließen uns nicht provozieren.

Dann stiegen wir in die S-Bahn und fuhren zum Bahnhof Zoo. Dort war natürlich „die Hölle los“, aber keinesfalls so extrem wie in früheren Jahren. Der Konsum war zurückgegangen im ersten Weihnachten der Ära Merkel. Und noch etwas fiel uns sofort auf: diese faschistoide Dauerberieselung mit alten, leiernden, verfälschten oder weich gespülten Weihnachtsliedern hatte aufgehört. Die Kaufhäuser verkauften ihr Zeug jetzt ohne „Stille Nacht, heilige Nacht“. Das tat dem Ganzen wahnsinnig gut. Aber, wie gesagt, wir sahen nur wenige Kunden. Und das keine zehn Tage vor „dem Fest“!

Unser Ziel war natürlich das KaDeWe, angeblich das letzte Wahrzeichen der ehemaligen Frontstadt, des alten untergehenden Westens. Wir kamen an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche vorbei, und ich machte ein Foto davon. Zu Hause konnte ich später zeigen, dass ich wirklich da war, also im spießigen Westberlin, das Leute wie ich ja nie betreten.

Wir waren recht durchgefroren, als wir in den Innenbereich des KaDeWe gesogen wurden. Jeder wusste, dass es dort zuging wie in der Sauna, wie eben in jedem Kaufhaus. Die Luft war verbraucht und künstlich aufgeheizt. Eigentlich war es gar keine Luft, sondern … ein stickstoffreiches Bakterienfeld. Aber sicher waren auch die Bakterien schon alle umgekommen. Mein armer Bruder! Eben noch Invalide, mußte sein gerade genesener Körper die nächste Belastungsprobe überstehen. Aber das gehörte zum Spiel. Das war Teil unserer alljährlichen „Großen Mutprobe“.

Wir waren alte Marxisten, das verband uns. Am Montag wollten wir mit Gretchen Dutschke und ihrem Sohn Marek eine antikapitalische frei lebende Weihnachtsgans essen. Aber vorher noch „der Marsch“, wie wir ihn nannten. Das musste sein. Das machten wir schon als Kinder. Das quälte uns.

Schon unsere Eltern hielten nichts von Weihnachten. Sie stritten sich morgens, mittags und abends, das war schon schlimm genug. Aber an Weihnachten potenzierte sich alles noch. Unsere Mutter, die nicht kochen konnte, probierte es ausgerechnet an „Heilig’ Abendt“ immer wieder. Die ganze Familie kam fast dabei um. Also es kam wirklich zu Magenkrämpfen. Ich sage WIRKLICH. Für mich ist das kein Witz. Für meinen Bruder ist es etwas anders, weil er unsere Kindheit regelrecht verdrängt hat. Er weiß nicht mehr, dass wir schon 1968 in den Spielwarenabteilungen der Kaufhäuser standen und uns nichts kaufen konnten. Unsere Eltern schickten uns immer weg. Noch auf der Straße hörten wir sie schreien.

Nun standen wir wieder da, in der Stofftierabteilung des KaDeWe.

„Du willst hier etwas KAUFEN?“ fragte Eckart ungläubig und erstaunt.

„Ja, ich muss zwei Geschenke hier besorgen.“

„Kannst du es denn auch BEZAHLEN?“

„Hör mal, ich bin doch nicht mehr neun Jahre alt!“

„Ach … ach so.“

Ich ging sehr bestimmt auf eine Verkäuferin zu und verlangte, die Affen zu sehen. Sie bediente zwar gerade einen Kunden, ließ ihn aber stehen und führte mich zu einigen Stoffaffen, die mir durchaus gefielen. Nicht sehr, aber ich hätte wohl einen genommen. Er war von Steiff und hieß angeblich „Jocko“. Der Name stand auf einer Halskrause aus Papier. Ich wusste das schon. Also dass er Jocko hieß. Dieser Affe wurde von Steiff seit 1903 unverändert hergestellt und hieß erst Jimmy, seit 1944 dann Jocko. Die damals herrschenden Nationalsozialisten wollten keine amerikanisch klingenden Kosenamen für die Stofftiere ihrer arischen Kinder. Schon 1965 hätte ich gern Jocko gehabt. Ich hätte ihn ja Jimmy nennen können.

„Was kostet das Tier?“

„89,95 Euro.“

„Ich brauche zwei davon.“

„Gern.“

Mein Bruder stand daneben und hatte einen vor Freude roten Kopf bekommen. Ich sah aus den Augenwinkeln, dass ihm die Stoffaffen gefielen.

„Für wen sind die denn, die Tierchen?“

„Ach … Hast du etwas dagegen, wenn ich sie noch einpacken lasse? Es gibt hier einen Einpackservice, sagt das Mädchen.“

„Naja, eigentlich …“

„Komm, sieh es einfach als einen Teil des Shopping. Das wollten wir doch machen, oder? Das ist doch ‚der Marsch‘, nicht wahr?“

„Ja.“

Wir gingen in den dritten Stock, und von da zum „Parkdeck eins“, und von da zum Einpackservice. Zwei wundervolle, engelhafte Einpackfräulein erwarteten uns. Sie strahlten, als seien sie direkt vom lüsternen „Sisal“-Chef abkommandiert worden. Als hätten sie vom Beginn des schleppenden Weihnachtsgeschäfts an nur auf mich gewartet. Die eine, die NOCH Hübschere, fragte:

„Mädchen und Junge? Wie alt sind sie denn?“

„Äh, fünf Jahre.“

„Oh!“

„Also, ein fünfjähriger Junge und ein siebenjähriger Junge.“

„Ja! Ich dachte schon … wenn sie beide fünf wären, wären es ja …“

„Hm … Zwillinge!“ Gut, dass es mir noch einfiel.

Ich hatte ein Geschenkpapier gewählt, das ungewöhnlich geschmackvoll war, mit Teddys drauf wie von Immendorff gemalt, leuchtend bunt wie sein berühmtes Bild „Café Deutschland“. Und die engelhafte Angestellte sagte prompt:

„Ja, das ist das schönste Geschenkpapier, das wir haben, so lange ich mich erinnern kann!“

Ich ließ die Stofftiere getrennt einpacken. Einmal dabei, holten sie noch besonders prächtige und passende Schleifen in Gold, Silber, Rot, Blau, Gelb und Weiß hervor. Mein Bruder bat mich derweil, ihm meinen Kassenbon zu überlassen. Damit wollte er zur Kasse gehen und sich angeblich „Punkte für eine KaDeWe-Kundenkarte gutschreiben“ lassen.

„Übertreibst eu es nicht ein wenig?“

„Entweder – oder. Das gehört alles zum ‚Marsch‘!“

„Na schön.“

Um zu testen, ob es wirklich „Sisal“-Mädchen waren, wollte ich nach der Handynummer von der einen fragen, bis mir einfiel, dass das nicht zur Nummer passte, die ich gerade abzog. Und sie gaben sich wirklich Mühe beim Einpacken, das musste ich sagen. So machte ich lieber ein Foto von ihnen.

Der Bruder kam zurück, glücklich und rotbäckig über seine virtuellen Punkte im Kundenpass. Unsere Eltern drehten sich im Grabe um, wenn sie das sähen …

Wir bewegten uns wieder durchs KaDeWe. An die Nichtluft hatten wir uns fast gewöhnt. Trotzdem geriet ich durch die aufgebackene Atmosphäre in einen Zustand verschwitzter Ohnmacht, bis wir endlich das Kundenrestaurant im sechsten Stock erreichten, unseren Stammplatz. Von hier aus konnte man das ganze Einkaufsviertel sehen. Erschöpft fiel ich in einen hässlichen Holzstuhl, pellte mich aus meinen ärmlichen Sachen. Eckart holte ein Stück Kuchen und eine kleine Tasse Wasserkaffee für mich.

Kaum saßen wir etwas gemütlicher, als ein Proletenpärchen neben uns Platz nahm:

„Se jestatten doch wohl, wa.“

Da war nun schlecht kommunizieren. Eigentlich stand nun „Das Gute Gespräch“ an, das mein Bruder und ich traditionellerweise hier führten, als geistiger und geistlicher Höhepunkt des „Marsches“. Wir sprachen dann normalerweise über Berufliches, über sexuelle Entwicklungen, über Politik und Philosophie. Als Altlinke gehörte Privates und Öffentliches für uns zusammen. Doch nun dröhnten die Prolls unsere Ohren zu:

„Un da ha ick zu ihr jesacht, dat is dat ALLERLETZTE Weihnachtn, dasdu hier bei mir …“

Wir verdrehten pikiert unsere Augen. Diese unmöglichen Leute! Indiskutabel, also echt.

„Is doch jut, wennet ma jemandt zu dir sacht, wa, is doch bessa, wennde et endlich hörst, ha ick zu ihr jesacht …“

Wir mussten hier wieder weg, es hatte keinen Sinn. Wir schwiegen noch betreten fünf Minuten, wobei wir merkten, dass unsere sexuellen und philosophischen Tagesordnungspunkte nicht für die Ohren der Lumpenproletarier bestimmt waren. Ich versuchte es matt:

„Schön, dass Schröderchen jetzt ordentlich Geld verdient, bei Gazprom. Er ... geht einfach in die Offensive, denke ich mir …“

„Was?!“

„Na, die Depression, in die du als Politiker fällst, nach dem Jobende, ist normalerweise schlimmer als jeder Heroinentzug … und dann will ich mir nicht die Doris vorstellen …“

Das Gute Gespräch fiel dieses Jahr aus. Den Prolls war fast der Löffel in die Suppe gefallen. Es drohte der Ausbruch einer Gruppendiskussion!

Deshalb aßen wir finster und still den Kantinenkuchen auf und traten den geordneten Rückzug an. Erst durchs Haus, dann durchs feindliche Viertel, dann mit dem Auto wieder zur Kleinen Präsidentenstraße. Ich stieg aus und gab Eckart eines der beiden Päckchen. Ich sagte, es sei für ihn, und das andere würde ich mir selbst schenken. Er umarmte mich und sagte, ich sei ein guter Mensch. Das hatte er noch nie zu mir gesagt. Ich erwiderte:

„Wenn du mal Kummer hast und mein Handy ist abgeschaltet, musst du es dem Affen erzählen. Der erzählt es dann meinem Affen, und der dann mir. So bleiben wir kharmisch verbunden. Wie früher.“

„So so … wie heißt er denn?“

„Mumin. Und meiner heißt Miko.“

„Deiner heißt Mumin?“

„Nein, DEINER.“

„Hm …“

„MEINER heißt doch Miko.“

So hießen schon die beiden Äffchen, die wir als Kinder hatten. Keine teuren Jockos. Die hatten wir uns selbst geschnitzt, aus Schaumstoffschwämmen. Aber die Kindheit, jetzt wurde es wieder deutlich, hatte Eckart ja verdrängt.

Vielleicht ganz gut so!

Joachim Lottmann, 48, Schriftsteller, wohnt in Berlin und Köln. Bekannt machte ihn sein Bestseller „Die Jugend von heute“. Anfang des neuen Jahres erscheint sein Gegenstück über alte Leute: „zombie nation“, Verlag Kiepenheuer & Witsch, 430 Seiten, 9,95 €