Mit Händen sehen

Kunstwerke anfassen? Im Museum? Ja, sowas gibt es. Blinde Menschen können sich in etlichen Museen in NRW in die Welt der Kunst einfühlen

VON JÜRGEN SCHÖN

„Berühren verboten!“ In jedem Raum des Kölner Museums Ludwig hängt ein Schild mit dieser Aufschrift. Es gilt für alle. Naja: für fast alle. Für Lothar Graf beispielweise nicht. Neugierig fährt der Rentner über die Rundungen eines Marmortorsos von Hans Arp. Seine in weißen Handschuhen steckenden Hände tasten. Man könnte auch sagen: Lothar Graf sieht mit ihnen. Denn heute nimmt er ein Angebot des Museumsdienstes wahr: eine Führung speziell für Blinde. Da ist das Anfassen der Kunstwerke ausdrücklich erlaubt.

Ein Sehender erkennt sofort: Das ist ein Torso. Lothar Graf muss sich das erst langsam ertasten. „Als ich das erste Mal einen Torso angefasst habe“, erinnert er sich, „bin ich fürchterlich erschrocken, weil der Kopf fehlte – ich wusste doch gar nicht, dass es so etwas gibt.“ Seine Schwierigkeiten, bei der Arp-Skulptur vorne und hinten zu erkennen, kann ein Sehender dagegen gut nachempfinden. Kunstpädagogin Karin Rottmann erklärt die Vexierspiele des Künstlers, schafft es sogar, dem Blinden Verbindungen zu Arps ähnlich amorphen Zeichnungen aufzuzeigen. Anfangs habe sie Schwierigkeiten gehabt, sich auf die Erfordernisse dieser Führungen einzustellen. Mittlerweile aber funktioniere es gut. Es werde sogar akzeptiert, wenn sie zu den Blinden sagt: „Und dort sehen Sie...“

Graf lacht. Er kennt die „klassische“ Frage eines Sehenden an einen Blinden zur Genüge: „Wenn Sie nichts sehen, sehen Sie dann schwarz?“ – Das hat er schon oft gehört. Und dann geantwortet: „Nee, wenn ich blind bin, sehe ich gar nichts.“ Allerdings, ergänzt der ehemalige Telefonist, könne er sich aus der Erfahrung Farben vorstellen, weil er erst als Kind erblindet sei. Sauberkeit verbinde er mit weiß, Sonne mit gelb.

„Wir wollen mit diesem Angebot Menschen ins Museum holen, die sonst von einem Museumsbesuch ausgeschlossen sind“, erklärt Peter Noelke, Leiter des Kölner Museumsdienstes. Deshalb bietet er auch Führungen für Hörgeschädigte oder Lernbehinderte an. Mit 35 Euro pro Stunde zuzüglich Eintritt sind die Führungen, die nur nach Anfrage stattfinden, allerdings nicht gerade billig. Aber es gibt keine Zuschüsse – die Preise müssen also die Kosten decken. In etlichen Museen in NRW werden solche Führungen angeboten, im Römisch-Germanischen Museum in Köln steht sogar eine spezielle „Anfass-Sammlung“ mit verschiedenen römischen Alltagsobjekten bereit.

Lothar Graf entdeckt derweil einen mehrere Meter hohen Dolomitblock, von Bildhauer Ulrich Rückriem gespalten und zersägt. Für ihn ist es eine „Erlebnisskulptur“. Er tastet die unterschiedlich gestalteten Oberflächen, spürt eine Schräge, die Bohrgänge. Fast wird man als Sehender neidisch auf das Privileg, die Kunstwerke anzufassen. Graf fühlt, Rottman erklärt – so entsteht allmählich ein Bild des Kunstwerks in Grafs Kopf: „Was ich höre und taste, muss ich im Kopf zusammensetzen“, erklärt der Rentner den Erkenntnisprozess. Er erfasse immer nur einen Teil. Ähnliche Schwierigkeiten habe er, wenn etwa eine Plastik die Momentaufnahme einer Aktion darstelle. „Bewegungen können wir ja auch nicht sehen.“

Vielleicht falle ihm das durch den Vergleich mit anderen Skulpturen leichter. Doch die Zahl der Objekte, die für Blindenführungen zur Verfügung stehen, ist begrenzt. Bei vielen sprechen konservatorische Gründe dagegen. Ein Marmorblock hält es aus, wenn man mit den Händen jeden Zentimeter abtastet. Manch andere Skulptur würde da schon in Einzelteile zerfallen.