KARL-MARX-STRASSE
: Alles ist über

Verträumt und doch konzentriert starrt er dem Bus hinterher

Samstagnachmittag auf der Karl-Marx-Straße. Nach einer gefühlten Ewigkeit namens Winter erreichen die ersten warmen Sonnenstrahlen den Kiez und locken die Leute aus ihren Wohnungen.

Vor dem türkischen Supermarkt werden für „ein Öro, bitteschön!“ Äpfel angepriesen, die auch einige AbnehmerInnen finden. Ganz Neukölln erledigt seine Wocheneinkäufe. Gestresst vom Gedrängel in den Lebensmittelgeschäften und dem Geschrei auf der Straße trage auch ich mein gerade erworbenes Essen in Tüten nach Hause. Die Nahrungsbeschaffung kam mir noch nie so anstrengend vor wie an diesem Nachmittag. Beinahe höhnisch lacht die Sonne mit ihren grellen Strahlen auf mich herab.

Ein Typ mit schwarzer Kapuze schleppt sich mir entgegen, er ist blass, sein Blick ist so glasig und müde, als sei er erst vor wenigen Minuten aus dem Club gestolpert. Fasziniert von seiner Art, sich in seinem eigenen Universum zu bewegen, lasse ich ihn nicht aus den Augen. Übertrieben wild tobende Kinder, der überlaute Gemüseverkäufer, überforderte Familienväter mit überfüllten Einkaufswägen und zu allem Überfluss auch noch ein paar übermotivierte FanatikerInnen der Marke Hertha BSC schmücken das Straßenbild. Alles ist über. Doch von all dem merkt der Kapuzenmann nichts. Völlig losgelöst schreitet er weiter voran. Nicht mal die großen Mandarinen von nebenan scheinen so verstrahlt wie er.

Plötzlich fährt ein Polizeiwagen im Reisebusformat von hinten an ihm vorbei. Das weiß-grüne Gefährt ist nicht zu übersehen. Nicht einmal von ihm. Verträumt und doch konzentriert starrt er dem Bus hinterher, hebt seinen rechten Arm, formt mit der Hand eine Pistole und drückt in die Richtung des Wagens ab. Dabei gibt er ein leises, fast stummes „Pschiu!“ von sich und schaut zufrieden seinem Schuss hinterher.

HENGAME YAGHOOBIFARAH