Allein zu Haus, aber live dabei

VON LUTZ DEBUS

Jan Niehues sitzt zu Hause vor einem Flachbildschirm, einer Tastatur und einem Mikrofon. Auf dem Monitor sieht er seinen Klassenraum: den der 9a des Nelly-Sachs-Gymnasiums in Neuss. Mit der Maus seines Computers kann er näher heranzoomen, so dass er die Schrift auf der Tafel erkennt. Tut er aber im Moment nicht, denn gerade ist kleine Pause. Seine Mitschüler laufen durchs Bild. Ein Mädchen bleibt vor der Kamera stehen. Erzählt zunächst, was sie am Abend im Fernsehen sah: den neuen Videoclip von Sarah Connor. Dann tanzt die Schülerin ein paar Schritte. Jan lächelt, sagt: „Cool!“ Das Mädchen lächelt auch. Es folgt ein bisschen Smalltalk, dann verabschiedet sie sich, geht aus dem Bild.

Jan Niehues nimmt am Unterricht teil, ist aber weit entfernt – er geht in die Teleschule. Der 13-Jährige kann seit Monaten nicht mehr in die Schule gehen. Irgendwann im Frühling ist Jan nur noch schlapp. Wenn er mit seinen Freunden auf den Bolzplatz geht, stellt er sich immer öfter ins Tor. Laufen ist nicht mehr drin. Und blass ist er. Nein, bleich. Jan hat den Eindruck, als stimme irgend etwas mit seiner Lunge nicht. Wenn er sich anstrengt, bekommt er nicht mehr genug Luft.

Ansteckungsgefahr

Die Eltern lassen ihn untersuchen. Nach quälend langen Stunden ist das Ergebnis da: Ihr 13-jähriger Sohn ist an Leukämie erkrankt. Einen Monat muss Jan zunächst im Krankenhaus bleiben. Mittlerweile hat er 18 Chemotherapien über sich ergehen lassen. Tageweise, manchmal auch eine Woche lang bleibt er in der Klinik. Eine Tortur. Anna Niehues zeigt ein Diagramm: das Protokoll der Therapie ihres Sohnes. Die vielen vergangenen Tage sind zentimeterbreite Streifen. Immer wieder sind schwarze, von oben kommende Pfeile in das Liniengitter gemalt. Manchmal dicke Pfeile, manchmal dünnere, dann aber gleich vier hintereinander. Die schwarzen Pfeile sind die Chemos.

Die Chemikalien, die von einem aufwändig verpackten Beutel über einen Schlauch in den Venenzugang an Jans Bauch in seinen Körper gelangen, sind reines Gift für den Jungen. Übelkeit, Durchfall, Erbrechen, Haarausfall. Eine Gürtelrose und eine Entzündung der Bauchspeicheldrüse hat er inzwischen überstanden. „Der Darm war völlig kaputt“, erzählt Jans Mutter und schüttelt dabei ihren Kopf, als könne sie all das noch immer nicht recht glauben. Völlig abgemagert ist Jan bald. Kein Essen kann er bei sich behalten. Inzwischen, dank eines Kortisonpräparates, wiegt er wieder mehr, hat sogar etwas Übergewicht.

Jan war noch vor einem Jahr so etwas wie ein Wunderkind. Die Tennis-Stadtmeisterschaft hat er gewonnen. Vize-Bezirksmeister im Judo war er. Und Schlagzeuger in einer Band. Die dritte Klasse hat er übersprungen. Sein Terminkalender war prall gefüllt. Ein Streber? „Nein, ich kann auch anders. Bei einer Ferienfreizeit wäre ich fast nach Hause geschickt worden. Hab Mist gemacht.“ Über die ihm zur Last gelegten Delikte schweigt er lieber, schmunzelt dann wie ein Berufspolitiker: „No comment!“

Zur Schule darf Jan nicht. Zu groß wäre die Gefahr, sich anzustecken. Wegen seines durch die Chemotherapie angegriffenen Immunsystems kann jeder Schnupfen lebensbedrohlich sein. Deshalb darf er auch nicht in die Stadt. Gerade die Vormittage nach der Entlassung aus der Klinik waren langweilig. Die Eltern auf der Arbeit, die beiden Brüder und auch alle Freunde in der Schule. Den gesammelten Harry Potter hat Jan durchgelesen, auf Englisch. Seine Eltern haben bei der Schulbehörde durchgesetzt, dass Jan acht Stunden in der Woche Unterricht von Lehrern und Referendaren des Nelly-Sachs-Gymnasiums erhält – zu Hause. Aber acht Stunden sind nicht fünf Vormittage.

Mit Hilfe der Elterninitiative der Kinderkrebsklinik Düsseldorf wurde die Teleschule installiert. Über zwei ISDN-Leitungen wird der Kontakt hergestellt. Der Klassenraum war schon mit einer Telefonsteckdose ausgestattet. Der kleine Schrank, in dem Mikrofon, Kamera und Lautsprecher untergebracht sind, wird von Mitschülern verwaltet. Jan kann von seinen Mitschülern und Lehrern nicht gesehen, aber gehört werden. So kann er sich zwar nicht melden, aber er räuspert sich, wenn er etwas sagen will. Sein „Nachbar“ macht dann die Klasse darauf aufmerksam.

Am Anfang mussten einige Hürden genommen werden. Bezirksregierung, Schulleitung, beteiligte Lehrer, Eltern und Schüler stimmten nach langer Diskussion zu. Der Datenschutz ist gewährleistet, indem eine Technik eingesetzt wird, die nicht via Internet arbeitet. Ton- und Bildaufzeichnungen sind unmöglich, aus dem Klassenzimmer wird nur live übertragen.

Lieblingsfach Sport

Natürlich möchten Jans Eltern, dass ihr Sohn den Anschluss nicht verliert. Aber es wäre für sie auch kein Beinbruch, wenn er die Klasse wiederholen müsste. Wichtiger ist ihnen, dass er Kontakt zu seinen Mitschülern hält. Seit September nutzt Jan die Teleschule. Oft bekommt er seitdem wieder Besuch von seinen Freunden und Bekannten. Geburtstags- und Weihnachtsgeldgeschenke hat Jan zusammen gelegt und davon einen Poolbillardtisch gekauft. Bis zu sechs Jungs schwingen nun an manchen Wochenenden im Keller des Einfamilienhauses der Familie Niehues in Neuss die Queues. Aber egal ob Billard, Kicker oder Tischtennis gespielt wird – alle Kinder tragen eine Gesichtsmaske.

Bald wird Jan wieder zur Schule gehen können. Vielleicht ab Januar, wenn er nur noch Tabletten nehmen und nicht mehr ins Krankenhaus muss, alles wieder beim Alten ist. Der ältere Herr, der ein Mal die Woche kommt, um Jan Klavierstunden zu geben, glaubt, dass sich sein Schüler verändert hat: „Er ist ernster geworden, reifer.“ Die Beethoven-Sonaten spiele er mit mehr Ausdruck.

Das Leben auf der Kinderonkologie der Uniklinik Düsseldorf, so Jans Mutter, sei belastend gewesen. Schwerstkranke und sterbende Kinder hat Jan dort kennengelernt. Einige kleine Patienten, so Anna Niehues, wurden dort mit dem Rollstuhl zur Chemotherapie gefahren. Manche starben dann nicht am Krebs, sondern an den Nebenwirkungen der Medikamente. „Können Sie sich das vorstellen? Das eigene Kind an Krebs erkrankt?“ fragt Jans Mutter. Ihr Sohn habe dabei noch vergleichsweise Glück. Die Erkrankung wurde in einem frühen Stadium diagnostiziert. Und diese Art der Leukämie ist recht gut therapierbar.

Früher war Sport Jans Lieblingsfach in der Schule. Doch seine Kondition reicht im Moment nur für ein Tischtennisspiel. In der Teleschule hat er am liebsten Latein. Diese Sprache sei ein wenig wie Billard, meint er. Berechenbar. Eine für den ehemaligen Hansdampf in allen Gassen heute erstrebenswerte Eigenschaft. Und einen Berufswunsch hat er inzwischen auch schon. Jan Niehues möchte Arzt werden.