„Ich betrachte meine Filme als Tattoo“

WERKSCHAU Im Arsenal-Kino sind die Filme des frankokanadischen Regisseurs Denis Côté zu sehen. Ein Gespräch über schwierige Publikumsgespräche, einen abrasierten Schnurrbart und den einen Schritt jenseits der Realität

■ Denis Côté, Jahrgang 1973, absolvierte seine Ausbildung in Kunst und Film am Collège Ahuntsic in Montreal. Seit seinem Studienabschluss im Jahr 1992 drehte er 15 Kurzspiel- und Essayfilme und insgesamt sieben Spielfilme.

■ Sein erster Langfilm „Drifting States“ wurde 2005 beim Filmfestival von Locarno mit dem Goldenen Leoparden des Videowettbewerbs ausgezeichnet, „All That She Wants“ 2008 mit dem Silbernen Leoparden für die Beste Regie. „Curling“ wird 2010 ebenfalls mit dem Silbernen Leoparden für die Beste Regie prämiert, ebenso wie Emmanuel Bilodeau als Bester männlicher Hauptdarsteller in der Rolle des Jean-François Sauvageau. Dieses Jahr gewann Côté bei der 63. Berlinale den Silbernen Bären für seinen aktuellen Film „Vic+Flo ont vu un ours“.

■ Die Werkschau „No Comfort Zone“ ist noch bis zum 23. April im Arsenal zu sehen, anschließend startet die Dokumentation „Bestiaire“ am 25. April in den Kinos.

INTERVIEW CAROLIN WEIDNER

Denis Côtés jüngster Film, „Vic und Flo haben einen Bären gesehen“, lief im Wettbewerb der Berlinale und spaltete das Festivalpublikum wie wohl kein anderer Beitrag: Sahen die einen in der Geschichte über ein Frauenpaar, das sich nach dem Verbüßen von Haftstrafen auf dem Land niederlässt, wunderbar formbewusstes Kino, störten sich andere an einer an Zynismus grenzenden Erzählhaltung. Die Filme von Denis Côté bewegen sich jenseits ausgetretener narrativer Pfade, und sie stellen moralische Kategorien auf die Probe.

taz: Herr Côté, das Arsenal hat Ihre Arbeiten unter dem Titel „No Comfort Zone“ zusammengefasst.

Denis Côté: Warum nicht? Vielleicht sollte ich sie mal fragen, warum sie das getan haben. Aber ich denke, es geht um die Komfortzone der Zuschauer – oder besser, die Abwesenheit von Komfort, wenn sie meine Filme sehen. Alles ist so unvorhersehbar, ja fast unberechenbar. Ich wechsle zwischen Fiktionalem und Dokumentarischem, bisweilen wird es brutal. Meine Filme sind narrativ, aber auch experimentell. Auf meine Charaktere und Protagonisten würde ich diesen Titel nicht unbedingt übertragen. So verrückt sind sie eigentlich nicht. Obwohl sie am Rande der Gesellschaft leben, Einzelgänger sind. „No Comfort Zone“ klingt aber auch ein bisschen nach einer Warnung.

Das Verlassen des Bereichs des Heimeligen ist aber auch ein vielversprechendes, aufregendes Unterfangen.

Stimmt. Aber nicht für jeden. Als ich jünger war, habe ich vor meinen Filmvorführungen immer gewarnt. Unter anderem auch, weil mir meine Filme selbst nicht so richtig behagten. Bei meinem ersten Langfilm „Drifting States“ entschuldigte ich mich zum Beispiel jedes Mal. „Entschuldigt, dass ich diesen Film gemacht habe! Ihr habt gerade 10 Dollar ausgegeben, um euch das hier anzusehen! Dabei läuft nebenan für 12 Dollar ein Film, der sein Geld wirklich wert ist!“ Irgendwann meinte jemand zu mir, dass ich damit aufhören sollte – es sei schließlich meine Arbeit. Dann lief es besser. Dafür trat ein anderes Gefühl auf die Bildfläche.

Und zwar?

Wenn ich nach dem Film die Fragen des Publikums beantwortete, hatte ich immer den Eindruck, sie seien nur geblieben, weil sie den Film so hassten. Nach der Vorführung saßen sie da und starrten mich an. Ich dachte, ich müsste Freundschaft mit dem Publikum schließen, sie versöhnen mit dem, was sie gerade gesehen hatten. Aber auch das hat sich glücklicherweise gelegt. Ich bin halt da. Und meine Filme sind es auch.

Ein begrüßenswerter Umschwung.

Ich denke, dass ich nun meine eigene Signatur habe. Es gibt eine Denis-Côté-Handschrift, man erkennt meine Filme. Das schafft Sicherheit. Ich habe in sieben Jahren sieben Filme gedreht und betrachte jeden einzelnen als einen Versuch. Er ist wie ein Ziegelstein in einer Mauer, ein Puzzleteil, kein Meisterwerk. Ich freue mich, dass ich es wenigstens versucht habe. Und ziehe das Wagnis dem Erfolgs vor.

Was unterscheidet einen Versuch von einem, wie Sie sagen, Meisterwerk?

In „Bestiaire“ sieht man lediglich einen Haufen Tiere, wir waren drei Leute und hatten keinen Produzenten, keinen Vertrieb, kein Geld. Wir gingen einfach in einen Zoo. Und ein Jahr später läuft er auf fünfundsiebzig Festivals. Ein Erfolg ohne Eifer und Druck. Es gibt Regisseure, die alle fünf Jahre einen Film realisieren, den sie dann als Glanzstück betrachten, mit großem Budget etc. Und dann floppt er! Ich aber gehe lieber von einem kleinen Film zum nächsten und versuche, es nicht zu schwer zu nehmen. Ich erinnere mich, dass ich einmal eine Fassbinder-Retrospektive gesehen habe – siebenundzwanzig Filme in zwei Wochen. Das hat wirklich etwas verändert. Sie sind keineswegs alle gut, aber wenn man sich seine Arbeit als Gesamtes ansieht, dann ergibt es plötzlich Sinn.

Wenn Sie sich dann doch einmal einen Ihrer „Versuche“ ansehen, wie empfinden Sie das?

Ich habe viele Tätowierungen, und so betrachte ich auch meine Filme – als Tattoo. Einige würde ich in dieser Form nie wieder machen, aber sie hatten zu diesem bestimmten Zeitpunkt ihre Berechtigung. Es hat keinen Sinn, etwas zu bereuen. Aber wenn ich zum Beispiel an „Drifting States“ denke – ich möchte nie wieder eine Kamera benutzen wie in diesem Film. Es ist erst acht Jahre her, aber damals gab es noch kein HD. Diese Videoästhetik stößt mir schon auf. Was sich außerdem verändert hat, ist meine Beziehung zur Realität.

Sie fordern sie nun heraus?

Genau. Das hätte ich früher nicht getan. Ich hatte so einen Respekt vor der Wirklichkeit. Mit „Vic+Flo ont vu un ours“ verhält es sich hingegen so: Auf den ersten Blick gibt es diesen Anschein von Realität, aber wenn man genauer hinsieht, stellt man fest, dass Derartiges im echten Leben nie geschehen könnte. Oder in „Curling“: Ein junges Mädchen wandert im Umkreis des Hauses durch den Schnee und findet im Wald ein paar Leichen. Und erzählt ihrem Vater nichts davon. Das ist natürlich möglich – aber! Ihr Vater entdeckt währenddessen ein verletztes Kind auf einer Straße und ist so verängstigt von der Gesellschaft, der Vorstellung, in ein Krankenhaus fahren zu müssen, dass er es lieber in einer Garage versteckt. Das ist möglich – aber! Darum geht es mir, dieses Aber. Es ist nur diese eine Fußlänge aus der Realität.

Was fasziniert Sie an diesem Schritt?

Zum einen werde ich rund um die Uhr mit Realität konfrontiert, manchmal auch von ihr belästigt. Beim Schreiben gebe ich das auf. Vieles läuft auch unbewusst. Nehmen wir den Stacey-Q-Song, den man in „Curling“ hört, „Two of Hearts“. Als ich noch ein Kind war, hörte mein Vater dauernd Disco-Nummern aus den Achtzigern. Und in „Curling“ taucht eine von ihnen plötzlich auf. Einfach so. Ich habe den Song benutzt, warum auch immer, und gar nicht auf den Text geachtet. Wir Franzosen verstehen ja kein Englisch. Plötzlich aber wird es mir offenbar: Die Szene, in der Vater und Tochter gemeinsam abends im Wohnzimmer sitzen, jeder für sich – „Two of Hearts“!

Alle denken, das sei ein säuberlich eingepflanztes Symbol.

Ich kann schon verstehen, dass Leute auf der Suche nach ihnen sind. Ich habe selbst zehn Jahre lang als Filmkritiker gearbeitet. Es war also meine Aufgabe, zu interpretieren, Metaphern zu entschlüsseln. Deswegen reagiere ich auch entspannt, wenn ich nach der Symbolhaftigkeit, den Zeichen in meinen Filmen gefragt werde. Hin und wieder amüsiert es mich sogar. Fakt ist aber, dass ich mir keine intellektuellen Gedanken zu meinen Filmen mache. Sie sind sehr formalistisch, ja, aber das ist etwas anderes. Das ist meine Obsession zum Kino. Der Inhalt tritt immer an die zweite Stelle. Der Zuschauer soll in seinem Kopf herumwandern können, wenn er meine Filme sieht, abdriften. Wenn jemand eine Botschaft, eine Lehre erkennen sollte, würde ich mich furchtbar unwohl fühlen. Denn es gibt keine. Aber mir fällt eine Ausnahme ein.

Ja?

Am Ende von „Curling“ hat sich Jean-François von seinem Schnurrbart getrennt. Für einen Mann in seinem Alter hat das definitiv etwas zu bedeuten!