In der Mitte

Nicht mehr zu Hause, aber auch noch nicht ganz hier: In der Landesstelle Unna-Massen rüsten sich „Spätaussiedler“ für ihren Weg in die Fremde

AUS UNNA ELLEN KOLLENDER

„Wo möchten Sie denn wohnen?“ Die Mundwinkel der Sozialberaterin bewegen sich, als hätte man sie auf Zeitlupe gestellt. Langsam und eindrücklich formuliert sie ihre Frage und schickt ein nettes, pädagogisch routiniertes Lächeln hinterher. Auf der anderen Seite des Schreibtisches sitzen Mutter und Tochter Kolenko. Erst vor ein paar Tagen aus Kasachstan in Deutschland angekommen, sind sie der deutschen Sprache noch nicht mächtig. Sie verstehen nicht. Stille. Nervös blickt Frau Kolenko zu ihrer Tochter. Ein Tuscheln. Der Versuch einer Antwort: „Ahlen. Olga. Schwester“, sie wohne dort. Frau Kolenkos Stimme zittert. Ihr Blick verliert sich irgendwo zwischen Zimmerpflanze und einer Babuschka, die die Beraterin auf ihrem Schreibtisch positioniert hat. Ein Stück russische Heimat im Verwaltungsgebäude A.

Familie Kolenko ist in der Mitte angekommen. In der Mitte zwischen einem Land, das ihr Zuhause war, und einem, das ihr zu Hause werden soll. Die Mitte, das ist die Landesstelle Unna-Massen (LUM), eine Art „Durchlauferhitzer“ für Menschen, die man Spätaussiedler nennt. Sie kommen aus Staaten, die einmal die Sowjetunion bildeten und deren Vorfahren deutsche Wurzeln haben (siehe Kasten). Binnen vier Wochen will man sie hier auf ihren Weg in die Fremde vorbereiten. Mit zwei Koffern und 33 Euro Begrüßungsgeld ist Familie Kolenko vor einer Woche eingetroffen. Sie beziehen eines der rund 1.000 Zimmer in den Häusern der Landesstelle, 60er-Jahre-Bauten, die fast alle gleich aussehen. Die Kolenkos besitzen hier wenig. Drei Betten, ein Kühlschrank, ein Fliegengitter. Töpfe, Besteck und Bettwäsche sind geliehen. Auf dem Flur wird gekocht. Es riecht nach Eintopf, russischer Soljanka.

Die Familie hat einen Laufzettel erhalten. Tausend Formalitäten müssen in angegebener Reihenfolge abgearbeitet werden. Von der Arbeitsagentur zur Stadtverwaltung übers Straßenverkehrsamt in die Ausländerbehörde. Wer die Anweisungen des Zettels nicht lesen kann, orientiert sich an Symbolen. Ein großes Euro-Zeichen erinnert an die Beantragung der Sozialhilfe.

„Wenn Sie das Girokonto auf Ihren Namen ausstellen lassen, müssen Sie das Geld aber auch Ihrem Mann zukommen lassen“, schmunzelt die Sozialberaterin. „Ja, ja“, sagt Frau Kolenko mit gesenktem Kopf. Verunsichert suchen ihre Augen nach der Tochter. Wieder hat Frau Kolenko das meiste nicht verstanden. Sie schweigt. Ihr Blick bleibt ernst.

Der siebenjährige Alexandr ist erkältet. Schüchtern schmiegt er sich an seine Mama, als sie das Büro der Sozialberaterin betreten. Er schnieft. Seine großen, graublauen Augen suchen nach etwas Gewohntem. Sie finden die Babuschka und verharren. Beschützend hält ihn seine Mutter im Arm, streicht über sein glattes Haar. Alexandr ist hochbegabt. „Er spielt Harfe wie ein Großer“, erzählt die Sozialberaterin. In St. Petersburg ging er auf eine Eliteschule. In Deutschland soll sein Talent weiter gefördert werden. Die Mutter will es so. Alexandr ist ihre große Hoffnung. „Haben Sie es gesehen?“, fragt sie die Beraterin. Mit großen Augen spricht sie von der Schulaufführung ihres Sohnes. Sie hat sie auf Video aufgezeichnet und der Angestellten geschenkt. „Gut, oder? Sehr gut, oder?“, fragt sie stolz. Die Sozialberaterin nickt. In der LUM haben die Menschen noch Träume.

Die Mitarbeiter greifen den Ankömmlingen so gut es geht unter die Arme. Sie sprechen mit den aufnehmenden Kommunen, organisieren Sprachförderung und Orientierungskurse. Nur: Russisch sprechen die meisten hier nicht. Die Verständigung ist entsprechend mühsam. Das neueste Projekt ist ein Sozialtraining für Jugendliche. Hier sitzen Alexandr Schupnikow und Alia Bekezanosa. Die Sozialpädagogin Oxana Haffner erklärt ihnen und ihren Mitschülern, wie man sich beim Vorstellungsgespräch benimmt: „Komm pünktlich! Zieh dich anständig an! Trink vorher keinen Alkohol!“ Alia kritzelt auf ihrem Bewerbungszettel. Sie malt kleine Männchen in rot und hellblau. Alia ist eine zarte Person, ihr blondes Haar verdeckt ihr blasses Gesicht. Beständig blicken ihre Augen nach unten. Fragt man sie und Alexsandr, ob sie Angst vor der Zukunft haben, schütteln sie den Kopf. Man sei gespannt und freue sich auf ein besseres Leben. Vermisst du denn gar nicht deine Heimat, Alia? „Ein bisschen. Die Freunde fehlen. Alles ist so neu.“ Alia will ihr Abitur machen, Ärztin werden, will die Chancen nutzen, die man ihr und ihrer Familie hier gibt.

Familie Kolenko muss noch ein halbes Jahr in Unna-Massen bleiben. „Ahlen ist geschlossen“, erklärt die Sozialberaterin. „Da wird in diesem Jahr keiner mehr aufgenommen.“ Die Familie könnte schon mal am Sprachkurs teilnehmen, zu dem sie das neue Zuwanderungsgesetz verpflichtet, sagt die Beraterin. Frau Kolenko nickt. Fast scheint sie ein wenig erleichtert. Sie wird mit ihrer Familie eine neue Wohnung in der Landesstelle bekommen. Eine schönere.

Auch für den kleinen Alexandr ist noch keine Schule gefunden, die seine Begabung fördert. Er wird wohl noch eine Weile im „Kabinett 13“ spielen, dem Jugendtreff der Landesstelle. Hier arbeitet Sozialdienstassistent Wolfgang Schlötke. Er gibt den Kumpel, der Kickerturniere veranstaltet und auch mal ein Auge zudrückt. Und während die älteren Bewohner in Grüppchen auf der Straße stehen, werden hier im Jugendtreff die ersten Grenzerfahrungen gemacht. „Zu uns kommen auch die deutschen Nachbarskinder“, erzählt Schlötke. Hier kenne man noch keine kulturellen Unterschiede. Und das Wort „Russlanddeutsche“ sei auch noch nicht gefallen.