Fast vier Jahre der Ruhe sind jetzt vorbei

In den Neunzigern wurden Urlauber in mehr als hundert Fällen zu unfreiwilligen Gästen jemenitischer Stämme – alle kamen unversehrt frei

Es gilt die alte Stammesregel, dass Ausländer auf dem Gebiet eines Stammes unter dessen Schutz stehen. Ihn zu gewähren ist eine Frage der Ehre

SANAA taz ■ In alten Jemenreiseführern werden Entführungen durch Stammesleute noch als Höhepunkt einer Tour durch das einstige Arabia Felix angepriesen. Die Gastfreundschaft der Stämme sei unübertroffen, der Tee in den Beduinenzelten den Umweg wert. Tatsächlich ist jahrelang am Ende alles gut gegangen: In den Neunzigerjahren wurden westliche Urlauber in mehr als hundert Fällen zu unfreiwilligen Gästen jemenitischer Clans erklärt. Sie alle kamen unversehrt frei, nachdem die Regierung in Sanaa den Stämmen versprach, in ihren abgelegenen Gebieten eine neue Schule, ein Krankenhaus oder eine Asphaltstraße zu bauen.

„Dorfbewohner sehen Entführungen oft als letztes Mittel, mit der Regierung zu verhandeln“, sagt die Expertin für das Stammeswesen Raufa Hassan Alsharki. In die korrupte Justiz und in die träge Verwaltung haben die wenigsten Vertrauen, und in den abgelegenen Wüstengebieten ist die Staatsmacht kaum präsent. Zugleich gilt aber die alte Stammesregel, dass Ausländer auf dem Gebiet eines Stammes auch unter dessen Schutz stehen. Diesen zu gewährleisten, ist für die Stammeskrieger eine Frage der Ehre. Wer die Regel missachtet, stellt sich außerhalb der Stammesgemeinschaft.

Die Universitätsdozentin Alsharki sieht die Regierung bei Entführungen in der Zwickmühle: „Es ist immer gefährlich, wenn die Forderungen erfüllt werden und sich dann Nachahmer finden.“ Andererseits könne das Militär aber auch keine Gewalt anwenden: „Das müssen dann die Geiseln ausbaden.“

Wohin das führt, zeigt die Entführung von zwölf Ausländern im Hinterland von Aden vor sieben Jahren. Bei der Befreiungsaktion durch das Militär starben vier Geiseln im Kugelhagel. Hintermänner waren militante Islamisten, was eine andere Gefahr deutlich machte: den Terrorismus. Die Familie von Ussama Bin Laden stammt aus einem Wadi im Ostjemen. Schon im Kampf gegen die sowjetische Besatzer Afghanistans gehörten die Jemeniten zu den ersten „heiligen Kriegern“. Die Anschläge auf ein US-Kriegsschiff im Hafen von Aden im Jahr 2000 und auf einen französischen Öltanker vor der Küste bei Mukalla 2002 brachten den Jementourismus endgültig zum Erliegen.

Auf Druck der USA ging die jemenitische Regierung hart gegen Islamisten vor, Investitionen in Stammesgebieten und eine verstärkte Militärpräsenz konnten in den letzten Jahren auch Entführungen verhindern. Mit der dritten Entführung in fünf Wochen sind fast vier Jahre Ruhe jetzt vorbei. Dabei sieht das Gesetz bei Ausländerentführungen seit 1998 im schlimmsten Fall sogar die Todesstrafe vor, und auch widerspenstige Stammesführer haben eingesehen, dass die für den Jemen so wichtige Einnahmequelle des Tourismus durch die Kidnappings schweren Schaden nimmt.

Dass die Entführer es diesmal auf ihr prominentes Opfer abgesehen hätten, wiesen sie selbst in einem Zeitungsinterview zurück. Offenbar soll auch Jürgen Chrobog nur als Druckmittel dienen, Stammesangehörige in einer seit Jahren schwelenden Stammesfehde aus dem Gefängnis freizupressen – wie so oft. Nach Schätzungen des Tourismusministeriums in Sanaa bereisen rund 8.000 Deutsche im Jahr den Jemen. Damit stellen sie eine der größten Besuchergruppen. Und kaum jemand ist hier so willkommen wie sie: „Alman, OK“, heißt es an den militärischen Kontrollpunkten oft nur, und die Urlauber werden mit freundlichem Nicken durchgewunken.

Mit zahllosen Checkpoints und Militärstützpunkten versucht die Regierung in Sanaa, auch die abgelegenen Stammesgebiete unter ihre Kontrolle zu bringen. Manche wie die unruhige Region um Saada im Norden werden für Ausländer immer wieder gesperrt.

Militärschutz ist auch für große Teile Schabwas erforderlich, die Provinz, in der die Chrobogs entführt worden sind. Um die einstige Prachtstadt des antiken Königreichs Hadramaut lieferten sich Forschungsreisende in den Dreißigerjahren einen erbitterten Wettlauf. Dem Deutschen Hans Helfritz gelang es 1935 als erstem Europäer, einen Blick auf die Ruinen in der Wüste zu werfen – bevor er von feindseligen Dorfbewohnern in die Flucht geschlagen wurde. Auch heute noch ist die Fahrt unter der auch im Winter brennend heißen Wüstensonne für ausländische Besucher nicht ganz einfach. An jedem der vielen Kontrollposten wird eine Kopie der Reisegenehmigung verlangt und, da viele Soldaten nicht lesen können, muss alles noch mal mündlich erläutert werden.

Unterdessen zeigen sich die Tourismusunternehmer in Sanaa von den Schlagzeilen in Deutschland wenig beeindruckt. „Urlauber meiner Agentur sind auch heute wieder in der Provinz Schabwa unterwegs“, sagt Mohammed Baza, der auf das Geschäft mit deutschen Urlaubern spezialisiert ist. Der Jemen sei jetzt nicht gefährlicher geworden, sagt ein Vertreter der Agentur ATG, mit der die Chrobogs unterwegs waren. Noch im vergangenen März, als der damalige Kanzler Gerhard Schröder in Sanaa zu Besuch war und ausgiebig über den Suk in der Altstadt spazierte, pries der deutsche Botschafter Frank Mann den Jemen als „sicheres Reiseland“.

Dabei bringt selbst der Militärschutz zumindest in der Mittagszeit ohnehin oft nichts, wie jetzt die Entführung der Familie Chrobog gezeigt hat, als die Begleitsoldaten die Urlauber an ihrem Tisch allein ließen. Auf ein pünktliches und reichliches Mittagessen legen jemenitische Reisebegleiter nämlich großen Wert: Denn nur so munden die leicht berauschenden Katblätter.

KLAUS HEYMACH, SUSANNE SPORRER