in der taz vor 16 jahren: silvester am brandenburger tor
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Die „Nacht der Nächte“ ist vorbei, und zurück bleibt ein Toter, über 100 Verletzte und eine Scherbenspur zerdepperter Sektflaschen. War es das wert, dieses Jahrhundertereignis, wie einige das Spektakel flugs nennen? War es der Gipfel der deutsch-deutschen Verbrüderungseuphorie?

Was in dieser Silvesternacht in Berlin geschah, hatte vor allem symbolischen Wert. Was am Brandenburger Tor passierte, war der gigantische Versuch zu reproduzieren, was seit dem Fall der Mauer an jedem neugeöffneten Grenzübergang stattgefunden hatte. Es war der Versuch, die Bilder zu wiederholen, die das Fernsehen millionenfach gesendet hatte, die Szenen nachzuvollziehen, an denen man nicht beteiligt war. Zu Beginn des neuen Jahres wollte man selbst da sein, wo „der Hauch der Geschichte“ weht. Das war es, was die Menschen in dieser Nacht auf den Platz vor das Tor getrieben hat. Die menschliche Wärme, die spontane Euphorie, die bei den deutsch-deutschen Verbrüderungsszenen am 9. November noch eine Rolle gespielt hatten, lassen sich aber nicht konservieren. Von daher war das Ganze nur ein Abklatsch.

Was sich seit dem 9. 11. in dieser Stadt breit macht, ist ein Erlebnishunger, eine Sucht nach immer größeren, immer massenhafteren Ereignissen. Diese Erwartungshaltung trägt jeder Berlintourist im Gepäck, wenn er die Stadt besucht, um seinem grauen Alltag zu entfliehen.

So zuversichtlich wie an diesem Jahreswechsel, das haben die Allensbacher Demoskopen ermittelt, sind die Deutschen noch nie seit Kriegsende in ein neues Jahr gegangen. Aber wie lange wird sie anhalten, die Euphorie, der Taumel, wie lange wird die Freude währen, wenn es ans Eingemachte geht? Denn aller Optimismus hört bekanntlich am Geldbeutel auf. Vielleicht gelingt es aber, ein wenig dieser Euphorie hinüberzuretten ins neue Jahrzehnt, scheibchenweise sozusagen.

Karl-Heinz Stamm, taz vom 2. Januar 1990