Weiße Wäsche im braunen Berlin

Bierkutscher, Schornsteinfeger, Olympia-Besucher – und Juden, die ihre Auswanderung vorbereiten: Der jüdische Fotograf Roman Vishniac streifte in den Dreißigerjahren mit der Kamera durch den Hauptstadt-Alltag. Erst nach seinem Tod entdeckt, sind die eindringlichen Fotos jetzt erstmals zu sehen

VON HEIKE RUNGE

Vom Aufbau her funktioniert die Ausstellung „Roman Vishniacs Berlin“ ähnlich wie ein Film – mit Eröffnung, Exposition, Klimax, Auflösung und Happy End. Der Establishing Shot ist eine Totale. Sie zeigt den Alexanderplatz bei schönstem Wetter. Man blickt auf die architektonische Moderne des von Peter Behrens entworfenen Alexanderhauses. Die Tram fährt ins Bild, Passanten, klein wie Insekten, flanieren über den Platz. Die Stimmung ist gelassen, alles scheint in bester Ordnung. Wenn da nicht noch die Bildlegende wäre – sie verweist auf das Jahr 1934 und damit auf das faschistische Berlin.

Von hier aus der Sprung ganz ans Ende: Harte Hell-Dunkel-Kontraste liegen über dem Bild, das die Ausstellung beschließt. Es fängt den Moment ein, als die vor den Nazis geflohene Familie Vishniac auf dem Dampfer der American Export Line am 31. Dezember 1940 in New York einläuft. Der jüdische Fotograf Roman Vishniac hat seinen Sohn Wolf und seine Frau Luta als Schattenriss vor der Reling aufgenommen. Ein Schlussbild, das vom privaten Happy End im Schatten des Unglücks handelt.

Zwischen diesen beiden Bildern wird in der Ausstellung im Jüdischen Museum die Geschichte einer jüdisch-lettischen Familie und ihres Umfelds im Berlin der Dreißigerjahre erzählt. Formal sind die Bilder eher unaufregend – gemessen an den Experimenten, die Vishniacs Zeitgenossen damals anstellten, sogar fast bieder.

Das Besondere an ihnen ist jedoch ihre ungeheure Authentizität. Hier wurde mit der Kamera eine Art Echtzeitstudie des Alltagsfaschismus geschaffen, die aus ganz privater und noch dazu jüdischer Sicht von Assimilation, Diskriminierung und Emigration berichtet. Eigentlich ist der Name Roman Vishniac mit der Dokumentation jüdischen Lebens in Osteuropa sowie mit der wissenschaftlichen Mikrofotografie verbunden. Dass der 1920 aus der Sowjetunion nach Berlin emigrierte Fotograf und Biologe noch ein eigenes kleines Hauptstadt-Oeuvre zusammenfotografiert hatte, stellte sich erst nach seinem Tod 1990 durch einen Zufallsfund auf einem Dachboden heraus. Das Jüdische Museum zeigt die Fotos des Meisters jetzt erstmals in einer Sonderschau.

Im ersten Teil der Ausstellung dominieren Close-ups jüdischer und nichtjüdischer Prominenz (darunter des Theaterkritikers Julius Bab, des Tenors Joseph Schmidt), Szenen aus dem Alltag in den Kiezen und humorige Schnappschüsse aus dem Molle zwitschernden Proletariermilieu der Bierkutscher und Kneipiers. Außerdem wird peu à peu die Verwandtschaft vorgestellt: erster Hochzeitstag mit Freunden, Hanukka mit den Kindern. Roman Vishniac war jemand, der gerne nah heranging an Leute, Tiere oder Pflanzen. Er porträtiert mal einen rußverschmierten Schornsteinfeger in der Pose des Helden der Arbeit, ein anderes Mal den von den Berlinern heiß geliebten afrikanische Elefantenbulle Harry aus dem Zoologischen Garten – Vishniac sozusagen mittenmang im Berlin der frühen Dreißiger.

Die Arbeiten im zweiten Teil der Ausstellung zeugen dagegen von der wachsenden Distanz zum öffentlichen Leben der Stadt. Die Spaziergänger, die sonntags den Grunewald durchstreifen, werden von Vishniac jetzt nur noch aus sicherer Entfernung aufgenommen. Die Gangart hat sich geändert; die Menschen, die während der Olympiade über den Wittenbergplatz gehen, scheinen regelrecht drauflos zu marschieren. Der dritte Teil dokumentiert den Rückzug der jüdischen Berliner: Aufnahmen zeigen Kindertransporte nach England oder junge Leute, die ihre Auswanderung nach Palästina vorbereiten.

Vishniac selbst hat seine Berlin-Bilder nicht zur Veröffentlichung vorgesehen. Sie waren oft die Restbilder am Ende von Filmrollen, auf denen sich seine Mikrofotos von Pflanzen und Insekten befanden – als sei es ihm nur darum gegangen, den Film noch schnell voll zu kriegen. Aus diesem Grund darf man sich dann auch nicht bei allen Bildern hundertprozentig sicher sein, ob es im Sinne des Fotografen ist, sie aus heutiger Perspektive sehr bedeutungsschwanger oder gleich als Metaphern auf das politische Geschehen zu lesen. Schließlich handelt es sich doch nur um Schnappschüsse. Bei einigen Arbeiten, vor allem bei den späteren Bildern, dürften Aussage und Intention jedoch genau kalkuliert sein.

„Washday“ von 1939 zum Beispiel ist so ein genial ironisches Bild, das eine Frau beim Wäscheaufhängen zwischen lauter weißen Bettlaken zeigt. Die Hände an der Leine, den Körper vom Tuch verdeckt, entsteht der Eindruck eines Gespensterwesens, einer Marionette. Ein hoch metaphorisches Bild des sauberen Mordens. Oder doch nur, wie die Bildlegende sagt, irgendeine Szene „somewhere in the outskirts“? „Roman Vishniacs Berlin“ ist in jedem Fall eine kompakte Ausstellung, die eine spannende Zeitreise unternimmt und in eine alltäglich-bizarre Stadt führt.

„Roman Vishniacs Berlin“, Sonderausstellung bis 5. 2. im Jüdischen Museum