Public Viewing am 1. Mai

FUTOPIE Mit revolutionärer Hightech kann die Polizei dem Abend des 1. Mai einen ganz neuen Verlauf geben. Auch weil der FC Barcelona mitspielt. Die Demonstranten sind begeistert. Wenn nur das ZDF nicht wäre

VON GEREON ASMUTH

Am späten Abend brach dann doch noch die Revolution aus, die alles, aber auch wirklich alles ändern sollte. Und nach der klar ist: Der 1. Mai in Berlin wird niemals wieder so sein wie zuvor. Dabei war Polizeipräsident Klaus Kandt zuvor heftigst kritisiert worden, dass die kostspielige Aufrüstung seiner Truppen speziell für diesen Kampftag sich schon im Vorhinein als Flop erwiesen habe. Schließlich, so hatte Benedikt Lux, Innenexperte der Grünen, gemäkelt, interessiere sich seit dem klaren 4:0-Hinspielsieg der Bayern gegen den FC Barcelona doch eh kaum noch jemand für das am Tag der Arbeit stattfindende Rückspiel im Champions-League-Halbfinale.

Doch ein Spiel dauert bekanntlich 90 Minuten. Ein Rückspiel manchmal sogar noch länger. Und so kam alles anders. Als die traditionell mal wieder heftig verspätete revolutionäre 18-Uhr-Demo gegen 21 Uhr die Rudi-Dutschke-Straße entlangzog, erfuhren auch die Demonstranten über den Live-Ticker auf taz.de, dass Messi nach nur 15 Spielminuten zum 2:0 eingeschlenzt hatte.

Jetzt kam sie doch noch, die Stunde des Strategen Kandt. Gerade als die ersten Demonstranten steinwurflüstern in Richtung der Schaufenstermeilen an der Friedrichstraße abbiegen wollten, ließ der Polizeipräsident einen der beiden für 250.000 Euro umgebauten Wasserwerfer auf der Kochstraße auffahren, der anstelle von tränengasgeschwängertem Nass auf die Demonstranten nun gestochen scharfe Fernsehbilder auf die Hausfassaden werfen konnte. Gerade noch rechtzeitig: Alves auf Piqué, Piqué auf Xavi, Xavi auf Busquets, Tiki-Taka, Busquets wieder auf Alba, Alba zu Messi, Doppelpass mit Iniesta – und Toooor! 3:0, nach nur 23 Minuten.

„A – A – Anarchia total!“, jubelte der anarchistische Block, der nun die Friedrichstraße rechts liegen ließ, weil er selbstverständlich geschlossen mit den Azulgranas von Barca fieberte. Denn in Barcelona, das weiß jeder gutgeschulte Linksradikale, gab es in den 1930er Jahren den kurzen Sommer der Anarchie. „A – A – Anticapitalista!“, rief ergänzend der klassenkämpferische Block in fließendem Spanisch und zweifelloser Solidarität mit der ausgebeuteten spanischen Arbeiterklasse. „Nie, nie, nie wieder Deutschland“, feierte der Block der Internationalisten, der weiß, dass das blöde Bayern ja irgendwie auch zu Deutschland gehört.

„Schalalalala!“, fiel die Truppe der demobegleitenden Polizisten ein, die sich nach und nach sämtlichst als Mitglieder des Fanclubs Herthacops entpuppten, die schon deshalb jedes Gegentor der Bayern bejubelten.

So wurde die 18-Uhr-Demo tatsächlich einmal revolutionär. Linksradikale und Polizisten jaulten gemeinsam beim Pfostenschuss von Iniesta (73. Minuten, großflächig auf die Fassade des Finanzministeriums gebeamt), atmeten gemeinsam auf beim versemmelten Elfer von Schweinsteiger (81., etwas wackelige Projektion auf das Bundesbauernministerium von Ilse Aigner) und lagen sich schließlich endgültig in den Armen nach dem dusseligen Eigentor von Bayern-Keeper Neuer (90. Minute, großartiges Screening auf die Fassade der Bundestagsbauten Unter den Linden mit Blick aufs Brandenburger Tooooor!).

Für Pay-TV fehlte erst recht das Geld

Beinahe wäre die neue Polizeitaktik ein voller Erfolg geworden – wenn das ZDF mitgespielt hätte. Doch gerade als die nun notwendige Verlängerung startete, ließen die Mainzer die Live-Übertragung zum Berliner Bildwerfer kappen. „Die öffentliche Vorführung unserer Sendungen ist durch die Zahlung der Rundfunkgebühr nicht abgedeckt, auch nicht bei der Polizei“, argumentierte ein ZDF-Justiziar und erwirkte per einstweiliger Verfügung einen Beamstopp. Polizeipräsident Kandt kritisierte den Entscheid und bedauerte, dass er nicht zur Live-Übertragung von Sky habe umschalten können: „Für Pay-TV fehlt uns erst recht das Geld.“

Die Fußballfans unter Demonstranten und Polizei beschlossen daher, doch wieder ihr altes Mai-Ritual aufzunehmen – und lieferten sich am späten Abend eine Straßenschlacht – allerdings der anderen Art: Nicht in Kreuzberg, sondern Unter den Linden, vor dem Hauptstadtstudio des ZDF, rollte der Ball, Anhänger beider Seiten rangelten und tobten und feierten einen Torschuss nach dem anderen. Es gab jede Menge Glasbruch. Wie das Spiel in Barcelona ausging, interessierte niemanden mehr.