Vom EU-Gesetz repolitisiert

DIE ITALIENERIN Giulia Tosti verlor Job und soziale Absicherung. Sie fordert radikaleres Denken

■ Die Gewerkschafter: Ein „soziales Europa“ fordert der DGB. Die aktuelle Kürzungspolitik sorge für „eine Spirale nach unten“, heißt es im Aufruf. „Sie trifft nicht die Krisenverursacher, sondern die Krisenopfer.“ Vor dem Brandenburger Tor soll Lars Lindgren sprechen, Präsident der Europäischen Transportarbeiterföderation.

■ Die Revoluzzer: Auch die „18-Uhr-Demo“ hat die EU-Sparpolitik im Fokus, zieht deshalb gen Regierungsviertel. Unter deutscher Führung stürze die Troika „Massen ins Elend“, so die Veranstalter. An der Demospitze soll eine Delegation aus Griechenland und Spanien laufen, als Zeichen „internationaler Solidarität“. (ko)

Im letzten Sommer steht Giulia Tosti mit 40 Mitstreitern vor dem Jobcenter Neukölln: Protestplakate, ein Klapptisch voller Infozettel. Aus der Betroffenen ist wieder die Aktivistin geworden.

Zwei Jahre zuvor war Tosti nach Berlin gekommen. Rom hatte sie trotz ihrer Promotionsstelle als Kunsthistorikerin verlassen. Wegen des „Berlusconismus“, wie die sanft wirkende Mittdreißigerin in scharfem Ton sagt, „dem lähmenden Stillstand, dem kulturellen Verfall“. Deutschland, hoffte sie, sei „irgendwie sozialer, gerechter“.

Ein Jahr arbeitet Tosti in einer Galerie in Mitte, bis die schließt. Die Italienerin findet keinen neuen Job, dann wird auch ihr Arbeitslosengeld eingestellt – laut Jobcenter wegen eines neuen EU-Gesetzes: das Europäische Fürsorgeabkommen, kurz EFA, mit dem sich die Unterzeichnerländer verpflichten, auch Nichtstaatsbürgern die vollen Sozialleistungen zu gewähren. Nur: Deutschland legte dagegen einen Vorbehalt ein.

Tosti weiß davon nichts, aber sie bekommt es zu spüren: Sie erhält kein Hartz IV mehr, ist nicht mehr krankenversichert. In diesem Moment bröckelt ihr Deutschlandbild, er repolitisiert sie. In Rom war Tosti im Centri Sociali aktiv, einem selbstverwalteten Projekthaus. Dann habe sie die politische Lage in Italien nach und nach resignieren lassen.

Mit dem Ablehnungsbescheid des Jobcenters gewinnt Tostis Gerechtigkeitsgefühl wieder die Oberhand. Über eine E-Mail-Liste stößt sie auf das Netzwerk gegen den EFA-Vorbehalt. 10.000 EU-Bürger stünden in Berlin deshalb ohne soziale Sicherung da, unbemerkt von der Öffentlichkeit, schätzt man dort. Etwa 400 betreut die Gruppe. Tosti geht zu den Treffen in Kreuzberg, schreibt Flyer, übersetzt sie ins Italienische – und stellt sich letzten Juni beim Protest gegen den EFA-Vorbehalt vor das Jobcenter.

Sie klagt zudem gegen das Jobcenter, auch als sie einen neuen Job in einer Galerie findet: „Aus Prinzip.“ Tosti lacht. Sie staunt selbst etwas über ihren neuen Kampfgeist. Vor zwei Wochen gibt ihr das Gericht recht: Das Arbeitslosengeld stehe ihr zu.

Die Politik lässt Tosti nun nicht mehr los. Im Haus der Demokratie referierte sie über die Prekarisierung von Akademikern, erzählte aus Italien. Sie besuchte Demos gegen die Stadtaufwertung. Auch am 1. Mai war sie hier die letzten beiden Jahre auf der Straße, am Abend, auf der „Revolutionären Demo“. Diesmal nicht, Tosti ist hochschwanger.

„Wir müssen wieder radikaler denken“, sagt sie. „Kompromisse in einem falschen System helfen nicht weiter.“ Tosti meint damit auch den Zustand der EU. Die brauche nicht mehr den freien Kapitalfluss, sondern endlich eine soziale Einheit. Tosti wüsste auch den ersten Schritt: indem Deutschland schon mal den EFA-Vorbehalt kippt. KONRAD LITSCHKO