Religion ohne Kompass

Der Historiker Dan Diner will in seinem neuen Buch „Versiegelte Zeit“ erkunden, warum die islamische Welt nicht so modern ist wie Europa. Seine Thesen sind differenziert – und lassen dennoch viele Fragen offen

VON JÖRG SPÄTER

Warum befindet sich die islamische und vor allem die arabische Welt in einem beklagenswerten Zustand, warum hat sie ein Modernisierungsdefizit? Diesen Fragen nimmt sich der Historiker Dan Diner in seinem neuesten Buch „Versiegelte Zeit“ an. Sie sind erstmals Mitte des 19. Jahrhunderts von islamischen Modernisten wie Jamal al-Din al-Afghani gestellt worden. Jene empfahlen, dass die islamische Welt sich die Errungenschaften Europas aneignen müsse. Wenn Islam und Moderne miteinander versöhnt seien, dann werde das goldene Zeitalter der Salafiyya, also der Altvorderen des Islam, wieder hergestellt.

Dieser Bezug auf die überaus erfolgreichen Gründerjahre des Islam sei, so Diner, nicht etwa eine legitimierende List von Intellektuellen, die die Moderne in eine islamische Umgebung einführen wollen, sondern eine rückwärts gewandte, mit dem Sakralen verbundene Utopie. Während westliche Utopien von einer linearen Fortentwicklung der Zeit ausgingen, bestimme in der islamischen Zivilisation die Rückkehr zur idealisierten Vergangenheit die Vorstellung von Geschichte. Für Diner sind solche Motive ein wesentlicher Schlüssel zum Verständnis der Entwicklungsblockade. Bewegung und Entwicklung seien im islamischen Geschichtsbegriff nicht vorgesehen.

Einen weiteren Grund für die ausgebliebene Moderne im Islam sieht Diner in der beanspruchten islamischen Einheit von Religion und Herrschaft. Sie habe verhindert, dass im Haus des Islam im Unterschied zu Europa Politik und Ökonomie, Staat und Gesellschaft, Öffentliches und Privates als eigenständige Sphären auseinander treten konnten. Alle Lebensbereiche seien somit von der Präsenz des Sakralen bestimmt worden. Die Zeit steht also still, weil sie durch sakral imprägniertes Recht versiegelt ist. Das Defizit an Entwicklung ist somit vor allem ein Defizit an Säkularisierung.

Diner hat einen ungewöhnlichen Aufbau für seine Argumentation gewählt. Er beginnt mit dem „Arabischen Bericht über die menschliche Entwicklung“ der UNDP im Jahre 2004, der den Mangel an Freiheit, Wissen und politischen Rechten in den arabischen Gesellschaften kritisiert. Danach geht er immer weiter in die islamische Geschichte zurück – vom Jahr 1924, in dem die kemalistische türkische Republik gegründet worden ist, über die Rivalitäten der großen Mächte in Vorderindien und Innerasien im 19. Jahrhundert, die frühe Neuzeit, während der die großen Umbrüche in Europa an der islamischen Welt vorbeigingen. Er endet in der „klassischen Zeit“, in der sich Elemente der „bürgerlichen Gesellschaft“ andeuteten, aber nicht weiter entwickelten.

Das thematische Panorama ist ausladend: Man liest über die Ideen der Salafisten, über Geopolitik, über die sakrale Versiegelung der arabischen Sprache, über den Platz des Marktes im arabischen „Mittelalter“, über islamisches Geschichtsverständnis. Methodisch bedeutet dies ein Wechselspiel von gesellschaftskritischen und kulturtheoretischen Überlegungen, ein bisschen Marx und sehr viel Max Weber. Nicht mehr die wirkliche oder vermeintliche andere Kultur, sondern das soziale Zusammenleben, Macht und Herrschaft, Produktion und Produktionsverhältnisse inklusive der geistigen und künstlerischen Produkte der Menschen interessieren – also genau das, was man mit dem Anderen auf andere Weise gemeinsam hat.

Diner zeichnet ein äußerst komplexes und intellektuell anregendes Bild. Die Lektüre wird allerdings zuweilen durch Redundanzen erschwert. Manchmal scheint es, als werde zirkulär argumentiert. Also: Die Verbreitung des Buchdrucks wurde durch die Macht des Sakralen verhindert, das die arabische Sprache umschloss. Und die Macht des Sakralen demonstriert er an dem Umstand, dass der Buchdruck abgewehrt wurde. Dieser Einwand gilt auch für Diners Großthese: Ist der sakrale Riegel gegen die Moderne nun die Ursache oder ein Symptom der ausgebliebenen Modernisierung? Diner hilft sich mit dem Begriff der Affinität: Materielle Verhältnisse und sakrale Verdichtungen konvergieren miteinander – das allerdings ist schwer zu verstehen.

Die These führt zu neuen Fragen, etwa: Wenn die Erfahrung der Diaspora die Modernisierung der Lebenswelt mit sich führt, und umgekehrt die Erfahrung von Religion als gesetzgebende und das Leben gestaltende Herrschaftsreligion Säkularisierung und damit den Einzug der Moderne verhindert, ist dann angesichts der Stärke des europäischen und amerikanischen Islam das Ende der „versiegelten Zeit“ eingeläutet?

Interessant sind die etwas versteckten autobiografischen Anmerkungen zur Entstehung dieses Buchs. Diner bewegte sich in den Siebzigerjahren als Linksabweichler der israelischen KP in internationalistischen Zusammenhängen, die sich Freiheit und Gleichheit, Sozialismus und Kommunismus, Marxismus und Psychoanalyse verschrieben hatten. Nach dem Scheitern der Neuen Linken übersetzt sich das Projekt schlicht in Demokratie, Pluralismus und Freiheit, gepaart mit Kritik an der ausgebliebenen Emanzipation.

Diner war und ist Universalist und Modernisierungstheoretiker. Er weiß die Errungenschaften der Moderne zu schätzen. Entfremdung und Emanzipation sind für ihn nicht antagonistisch: Entfremdung sei zivilisationsbildend und Emanzipation ein Kompass für die Entwicklung einer Zivilisation. Mithin sind das Fehlen von Entfremdung und Emanzipation wesentliche Momente in der ausgebliebenen Modernisierung der islamisch-arabischen Welt.

Dan Diner: „Versiegelte Zeit. Über den Stillstand in der islamischen Welt“. Propyläen Verlag, Berlin 2005, 287 Seiten, 22 €