Gespräche mit Schatten

„Die Braut von Odessa“: Edgardo Cozarinsky erzählt melancholisch-abenteuerliche Geschichten über das Exil

Die Geschichte von der „Braut aus Odessa“, die dem Erzählband von Edgardo Cozarinsky ihren Namen gibt, spielt am Schwarzen Meer, und sie handelt vom Auswandern, von der Liebe, der Macht zufälliger Begegnungen und der Brüchigkeit von Identität. Der Hafen von Odessa ist eine fruchtbare Erde für Erzählungen vom Exil: An der Schwarzmeerküste schrieb Ovid seine Tristium libri, traurige Gesänge der Sehnsucht nach Rom, hier lebte Puschkin in einigermaßen komfortabler Verbannung, und 1919 verließ von der Krim aus der junge Nabokow sein Heimatland. Der Großmeister der Literatur des Verlusts taucht, wie die russischen Klassiker und Borges, immer wieder zwischen Cozarinskys Zeilen auf.

1890 aber steht in Odessa ein anderer junger Mann am Quai. Er ist frisch verheiratet, aber seine Frau will ihm nicht nach Argentinien folgen, dem gelobten Land jenseits des Meeres. Da trifft Daniel, der Jude, eine Christin. Vielleicht verliebt sie sich, vielleicht folgt sie der Chance auf ein neues Leben – anstelle der unwilligen Ehefrau geht sie mit an Bord des Schiffes und wird in Argentinien Stammmutter einer großen Familie.

Das Geheimnis ihrer Identität wahrt immer die älteste Tochter, bis, irgendwann in der Gegenwart, die Geschichte einen späten Nachfahren erreicht, der in einem Pariser Krankenhaus auf seine Krebsdiagnose wartet. Das Familiengeheimnis hat Konsequenzen für seine Identität: Wenn die Urgroßmutter nicht jüdisch war, dann ist es keiner ihrer Nachkommen.

Identität entsteht in Edgardo Cozarinskys Erzählungen nicht aus der Gewissheit eines lückenlosen Stammbaums, sondern aus einer Schlüsselerfahrung des 20. Jahrhunderts: dem Exil. Aus der alten Strafe des Heimatverlusts und der Entwurzelung, aus der im 20. Jahrhundert eine Verschiebung von Menschenmassen kreuz und quer über den Erdball wurde. Cozarinskys Lebensweg zeugt von diesen Verwerfungen: 1939 wurde er als Sohn russischer Einwanderer in Argentinien geboren, 1974 verließ der Filmemacher und Schriftsteller das Land wegen der politischen Situation und emigrierte nach Paris. Die Erfahrung von Fremdheit, der Zusammenprall von Menschen, Kulturen, Sprachen und Zeiten bestimmt den Grundton seiner Erzählungen.

Dabei hat Cozarinsky, mit den Worten eines seiner Erzähler, eine „Vorliebe für obskure Persönlichkeiten“. Seine Protagonisten sind Versehrte, Einzelgänger, Übriggebliebene. Etwa der vor den Nazis geflohene deutsche Musiker, der sich in Buenos Aires als Barpianist durchschlägt. Seine Sehnsucht nach Deutschland betäubt er mit Kokain, so lange, bis sein mühsam aufrechterhaltenes Selbstbild zusammenbricht und er kurz vor dem Krieg – ins KZ? – zurückkehrt. Eine andere Erzählung spielt in einer zum Krankenzimmer umfunktionierten Hotelsuite. Ein gealterter Lebemann und Mäzen bekommt Besuch von einer Frau. Seine frühere Geliebte und Kampfgefährtin meint ihn trotz seiner Gesichtsoperationen zu erkennen. Es folgt ein kurzes Gespräch, in dem er sie vom Krankenbett aus verspottet; sie entfernt die Schläuche, die ihn am Leben halten, und kehrt dann, befreit, in ihr Hotelzimmer zurück.

Die Vergangenheit ist in Cozarinskys Erzählungen auf fast verstörende Weise präsent. Immer erreicht sie, wie der berühmte Brief bei Jacques Lacan, ihren Empfänger: im krassen Fall als Mord, als verspäteter Brief oder als Einsicht für die Nachgeborenen. Einmal gelesen, wird das Vergangene gegenwärtig, wenn auch nur als Fragment, das wir in unserer Fantasie mit Leben füllen. Bei Cozarinsky ist das die Aufgabe von Literatur. Wie es am Ende in „Die Braut aus Odessa“ heißt: „Niemand würde von ihm Rechenschaft verlangen, wenn er die Geschichte nicht weitergäbe. Zwei Tage später gehorcht er jedoch einem Impuls, den er nicht zu erklären vermag, und schreibt sie als Erzählung auf.“ ULRIKE MEITZNER

Edgardo Cozarinsky: „Die Braut aus Odessa“. Aus dem Spanischen von Sabine Giersberg. Wagenbach Verlag, Berlin 2005. 153 S., 17,50 Euro