Heimat zum Paketpreis

Der belgische Regisseur Bouli Lanners erzählt in seinem Film von ein paar Menschen, die versuchen, dem Alltagstrott ihrer wallonischen Heimat zu entkommen. Dabei zeigt er selbst die grauesten Vorstädte und Industriebrachen Walloniens noch in malerisch-schönen Cinemascope-Bildern

VON SEBASTIAN FRENZEL

Vielleicht heißt Surrealität ja bloß ein bisschen genauer hinschauen. Ein bisschen länger hinschauen. Der Film „Ultranova“ des belgischen Regisseurs Bouli Lanners lädt dazu gleich zu Beginn ein. Mitten in einem Feld liegt ein Auto auf dem Dach, es muss der Moment unmittelbar nach einem Unfall sein, doch wir erfahren nichts über das Davor oder das Danach. Die Bewegung ist eingefroren, ganz wie bei André Bretons berühmter Aufnahme einer verrosteten Lokomotive im Urwald. Die Zeit scheint stillzustehen, als blickte man auf ein Foto, und alle Deutungsmöglichkeiten zwischen Todesstille und friedlicher Harmonie, zwischen Ende und Neuanfang bleiben offen.

Das Auto ist ein zentrales Motiv in diesem Film, ein Symbol für die Flucht und selbst bestimmte Lebenswege. Dem Alltagstrott würden die Figuren dieses Film allzu gern entkommen, doch gleichzeitig scheinen sie wie gelähmt, vollgesogen von der Tristesse ihrer wallonischen Heimat. Da ist Dimitri (Vincent Lecuyer), ein verschlossener junger Mann, der Fertighäuser verkauft. Gemeinsam mit seinen Arbeitskollegen fährt er durch das Land und besichtigt brache Baugrundstücke. Dimitri verkauft Heimat zum Paketpreis, selbst das Picknick im Garten ist in seinen Unterlagen vorgeplant, doch er selbst ist entwurzelt, auf der Suche nach Geborgenheit.

Da sind Dimitris Arbeitskollegen, der eine ein lakonischer Tresenphilosoph, der andere ein Paranoiker, der weite Umwege fährt, um nicht mit dem Bettler an einer Straßenkreuzung konfrontiert zu sein. Später organisiert er eine Sicherheitsschulung für den Betrieb, aber der Bedrohung seiner inneren Leere wird er nicht ausweichen können. Und da ist Dimitris Nachbarin Jeanne, die in einem Möbelhaus arbeitet und ihre eigene Methode gefunden hat, den Rätseln des Lebens nachzugehen. Mit kindlichem Ernst erklärt sie ihrer Freundin Cathy (Hélène de Reymaeker), dass die Linien in der linken Handfläche die Erinnerung und die in der rechten die Zukunft markieren.

Es ist nicht viel, was wir von den Figuren in diesem Film erfahren – wer sie sind, wo sie herkommen und was sie wollen, kann man nur erahnen. Diffuse Wunschvorstellungen von einem anderen Leben haben sie, doch meist sehen wir ihnen bloß dabei zu, wie sie ihrem eigenen Leben zusehen. Oder wie sie scheitern, wenn sich doch mal eine Veränderung anbahnt – Cathy und Dimitri treffen sich eines Tages zufällig vor Jeannes Wohnung, sie verabreden sich, doch Dimitris Hoffnung auf eine Beziehung zerschlägt sich schnell.

Also doch eher trüber Sozialrealismus? Ja und nein. Denn –und das macht „Ultranova“ so sehenswert – Lanners gelingt es, noch die grauen Vorstädte und Industriebrachen Walloniens in malerisch-schönen Cinemascope-Bildern zu zeigen. Das Alltägliche fängt dieser Film so überaus realistisch ein, dass es sich für wundersame, surreale Einschübe öffnet. Aus heiterem Himmel steht da plötzlich ein Fremder vor Dimitri und seinen Kollegen und bittet um Mitnahme. Er habe einen Unfall gehabt, als sein Airbag aufgegangen ist. Wie das gekommen sei, will einer der Kollegen dann im Auto wissen, ob er scharf gebremst habe oder über ein Schlagloch gefahren sei? Nein, der Airbag ist aufgegangen, sagt der Mann verzweifelt, einfach so. Wir sehen ihn nur von außen, die Landschaft spiegelt sich in der Autoscheibe und scheint ihn auszulöschen, als er in Tränen ausbricht.

Airbags, die Unfälle auslösen – vielleicht ist dies ein Signal, das Zeichen zum Aufbruch, auf das die Figuren in diesem Film so dringend zu warten scheinen. Vielleicht ergibt sich ein Neuanfang gerade dann, wenn sie das Steuer einmal aus der Hand geben. Und vielleicht spricht dann doch so etwas wie Hoffnung aus diesem Film, der eigentlich keine Geschichte erzählt, sondern in seiner bruchstückhaften Form eher die Unmöglichkeit ausdrückt, das eigene Leben und die Welt da draußen zu einer sinnvollen Erzählung zusammenzusetzen.

Manchmal bleibt in diesem kleinen, ganz großartigen Film die Kamera zu lange auf einer Einstellung, geht über den Handlungspunkt hinaus, als wüsste auch der Regisseur nicht wirklich weiter, als könnte auch er nicht über seine Bilder und die Geschichte verfügen. „Meine Helden“, sagt Bouli Lanners, „sind wie kleine Sterne, deren Wärme man erst bei ihrer Implosion wahrnimmt, wie Supernovas, die vor ihrem endgültigen Tod ein letztes Mal leuchten. Ich hoffe, dass sie nicht endgültig sterben. Ich hoffe, dass sie darüber hinauskommen.“

„Ultranova“. Regie: Bouli Lanners. Mit Vincent Lecuyer, Hélène de Reymaeker u. a. Belgien 2005, 100 Min.