Muslim-Test für Deutschland

Die deutsche Integrationspolitik ist gescheitert, weil sie sich zu lange mit Nischenthemen befasst hat. Künftig muss Chancengleichheit für Migranten im Vordergrund stehen

Wir brauchen eine Politik, die überzeugend vermittelt: „Wir sind eine Gesellschaft – ihr gehört zu uns“

Die Tragikomödie heißt „Neues aus der Parallelgesellschaft“ – und wird regelmäßig umgeschrieben. Den letzten Akt hat nun Baden-Württembergs Innenminister beigetragen, als er zum 1. Januar 2006 den „Muslim-Test“ einführte. Damit wollen die Behörden herausfinden, wie verfassungstreu muslimische Bewerber auf die deutsche Staatsbürgerschaft sind.

Das Lachen, das einen unwillkürlich beim Lesen des Muslim-Tests überkommt, bleibt einem schon bald im Halse stecken. Denn der Fragebogen ist nicht nur Teil eines Diskurses der Mehrheitsgesellschaft, der die muslimische Minderheit durch Verallgemeinerungen stigmatisiert und ausgrenzt. Wichtiger noch ist: Der Test führt uns den miserablen Zustand bundesdeutscher Integrationspolitik vor Augen.

Die deutsche Integrationspolitik ist im besten Fall gut gemeint. Natürlich soll den hier engagierten Menschen nicht der gute Wille abgesprochen werden – aber all die Kampagnen und die Projekte gehen am Kern des Problems vorbei. Integrationspolitik beschäftigt sich viel zu oft mit exotischen Themen: Man gewinnt den Eindruck, dass Muslime sich tagtäglich mit „Zwangsheiraten“ und „Ehrenmorden“ herumschlagen. Dass in jeder muslimischen Familie täglich mindestens eine Zwangsheirat stattfindet, dazu ein Ehrenmord begangen wird. Und dass es für Muslime enorm wichtig ist, wo sie geschächtetes Fleisch herbekommen.

Tatsächlich aber fragt sich der durchschnittliche Muslim in unserem Land eher, bei welchem Discounter das Fleisch am billigsten ist. Es geht – genau wie bei den deutschstämmigen Bewohnern unseres Landes – um die wirklichen sozialen Probleme. Das wird besonders in den großstädtischen Vierteln deutlich, wo die Arbeitslosigkeit hoch ist und die ohnehin schon geringen Einkommen sinken.

Es ist richtig, dass in diesen Bezirken besonders viele Migranten leben, natürlich auch Muslime. Diese sind jedoch nicht die Ursache der wirtschaftlichen Misere. Und schon gar nicht sind deren soziale Probleme auf ihre Religionszugehörigkeit zurückzuführen. Wir haben es schlicht mit dem allseits bekannten wirtschaftlichen Niedergang zu tun, der bis in die deutschstämmigen Mittelschichten hinein Millionen Menschen trifft.

Wie weit der Desintegrationsprozess führen kann, hat die „Revolte der Überflüssigen“ (Ulrich Beck) in Frankreich gezeigt. Könnte es also sein, dass von der Notwendigkeit zur „Integration“ immer nur dann die Rede ist, wenn gesamtgesellschaftlich wirksame Desintegrationsprozesse besonders stark werden? Es scheint so. Eine solche Integrationspolitik ist nicht mehr nur von gut gemeinter Hilflosigkeit geprägt, sie ist lediglich ein Alibi.

Diese Alibipolitik zielt vor allem darauf ab, ethnische, religiöse und kulturelle Unterschiede zu betonen. Der Zweck: den Zusammenhalt der Mehrheitsgesellschaft durch die Ausgrenzung der Muslime zu stärken. Eine bewährte Methode. Der Eindruck, dass es gar nicht um Integration, also die Herstellung von Chancengleichheit für Migranten geht, wird durch die wiederholte Betonung der „Andersartigkeit“ der Muslime verstärkt.

Dadurch wird nicht die offiziell gewünschte Integration erreicht, sondern vielmehr die Vertiefung von Segregation. Dieses Prinzip hat Max Frisch in seiner Fabel „Andorra“ beeindruckend dargestellt. Erst durch das Bild, das die anderen sich von ihm machen, wird der junge Andri zum Juden. Dieses Prinzip, das schon seit langem den öffentlichen Diskurs über den Islam bestimmt, treibt der Muslim-Test auf die Spitze.

Wir haben es mit einer Integrationspolitik zu tun, die mit Nischenthemen befasst ist, wirtschaftliche und soziale Probleme ethnisiert, reale Problemlagen verkennt und allzu oft von einer konservativen Propaganda der Andersartigkeit geprägt ist. All dies können und sollten wir uns nicht leisten. Machen wir deshalb endlich Schluss mit dieser überholten Integrationspolitik. Denn mit ihr hat sich jahrzehntelang nichts geändert.

Es wurde nur immer wieder ein und dieselbe Personengruppe mit anderen Etiketten versehen: Zuerst sprachen wir von den „Ausländern“ und ihren Problemen, dann hatten wir ein „Türkenproblem“, später waren es die „Migranten“. Nun dreht sich alles um „die Muslime“. Die Menschen, um die es dabei geht, sind dieselben geblieben – und ihre Probleme auch.

Wirklich weiterbringen würde Mehrheit wie Minderheiten in Deutschland nur eine gesamtgesellschaftliche Aufwertung der Bildungs- und Arbeitsmarkt- und Antidiskriminierungspolitik, also eine zukunftsgerichtete Gesellschaftspolitik. Sie müsste die Basis schaffen zu sozialer Teilhabe und dem Einzelnen als Sprungbrett für sozialen Aufstieg dienen. Wichtiger Bestandteil einer solchen Politik sind die Einführung einer verbindlichen Vorschule ab dem vierten Lebensjahr und ein flächendeckendes Angebot an Ganztagsschulen. Weiterhin sollte jedem Jugendlichen in Deutschland ein Ausbildungsplatz garantiert werden. Wir müssen erneut über die Einführung der Ausbildungsplatzumlage nachdenken. Folgerichtig hieße dann Integration: Wir stellen wirtschaftliche und soziale Chancengleichheit her.

Deutsche Integrationspolitik zielt darauf ab, ethnische, religiöse und kulturelle Unterschiede zu betonen

Dafür muss der Staat Rahmenbedingungen schaffen – nicht mehr und nicht weniger. Der Schwerpunkt muss dabei auf dem „Sein“ liegen. Politik sollte aber der Dialektik verpflichtet sein und das „Bewusstsein“ nicht außer Acht lassen. Wir brauchen eine Politik der Gleichheit und der Anerkennung, die überzeugend vermittelt: „Wir sind eine Gesellschaft – ihr gehört zu uns.“

In Bezug auf die Muslime heißt das: Sie werden als selbstverständlicher Bestandteil europäischer Gesellschaften anerkannt. Sie sind kein Fremdkörper, der in eine andere Mehrheitsgesellschaft integriert werden muss. Wer anders argumentiert, verwickelt sich schnell in Widersprüche. Legt man etwa die Fragen des Muslim-Tests zu Grunde, so wäre der heutige Papst sicher spätestens bei seiner Einstellung zu Homosexualität und zur Gleichberechtigung der Geschlechter mit seiner Einbürgerung gescheitert. Und die Frage „Muslim, wie hältst du’s mit Frauen in Spitzenpositionen?“ ist beschämend angesichts der langen öffentlichen Debatte in Deutschland über die erste Frau im Kanzleramt – und angesichts der Tatsache, dass gerade in Ländern mit der größten muslimischen Bevölkerung wie der Türkei, Pakistan und Indonesien schon vor Jahrzehnten Frauen an der Staatsspitze waren oder Oppositionsführerin und oberste Richterin wurden.

Klar muss sein: Die Fronten verlaufen nicht zwischen Demokraten und Muslimen oder zwischen Deutschen und Muslimen – sondern zwischen aufgeklärtem Denken mit sozialer Verantwortung und einem konservativen Gesellschaftsmodell. Gemeinsam müssen wir dafür kämpfen, dass nicht eine reaktionäre Sicht die Oberhand gewinnt. Lassen wir uns nicht einlullen. Und lassen wir es nicht zu, dass der gesellschaftspolitische Fortschritt zerstört wird, den Rot-Grün geschaffen hat.

LALE AKGÜN