Das ist die Flut, die keiner bestellt hat

DING DONG DOM Ein vielgliedriger blauer Organismus windet sich durch die staubige Kuhle. Am 1. Mai feierten Showcase Beat Le Mot die baldige Eröffnung ihres Theaters auf dem Holzmarktgelände mit einer Performance

„Ihre Kleidung war mitleiderregend, jetzt sehen Sie gut aus“, sagt Nikola Duric

VON ULRICH GUTMAIR

Der kommende Aufstand findet ohne uns statt. Die Couchs vor dem Café Kotti sind zu bequem. Trotzdem genießen wir das Schauspiel des Feuers, das gegen zwei plötzlich unter dem U-Bahnhof Kottbusser Tor lodert. Schließlich ist Walpurgisnacht, und trotz des Widerwillens, den wir angesichts des vitalistischen Kriegertums der Militanz empfinden, ist es doch immer wieder schön, dass in der Nacht zum 1. Mai die Ordnung außer Kraft gesetzt wird. Der 1. Mai ist die Berliner Form des Karnevals. Nach einer Viertelstunde kommt die Feuerwehr und löscht.

Anderntags soll auf dem Holzmarktgelände Spatenstich gefeiert werden, weswegen vollverstrahlte Raver mit ungesunder Gesichtsfarbe sich mit mäßig verpeilten Eltern und Kindern treffen. Der Bahnhof Jannowitzbrücke spuckt immer neue Leute aus. Draußen vor der Nummer 25 stehen drei Polizisten und melden ihrer Zentrale, dass sich gut zweitausend Personen auf dem Gelände aufhielten. Irgendein Problem scheint es damit zu geben, dabei organisieren sich die Leute ganz gut selber. Showcase Beat Le Mot, die vierköpfige „Performance-Boygroup“ (Wikipedia), die der Gießener Schule zugerechnet wird (Volksmund), werden sich in der Kuhle gleich neben der Hüpfburg versammeln, sagen sie, da sei noch Platz.

Kurz nach vier ziehen Showcase Beat Le Mot ein blaues Tuch aus einem blauen Plastikmülleimer. Worin 55 Löcher sind, in denen alsbald 55 Köpfe stecken, animiert von Nikola Duric, der mit einem Trümmertuntenoutfit und Megafon versucht, die Aufmerksamkeit der Menschen in der staubigen Kuhle auf sich zu lenken, was angesichts des Bummbummbumms, das von weiter oben herüberweht, gar nicht so einfach ist.

Unter dem langen blauen Tuch stecken nun Körper von Erwachsenen und Kindern, großen und kleinen Menschen. Nikola Duric hat die Aufgabe, den vielgliedrigen Organismus zu gemeinsamem Tun zu animieren, und das macht er ganz ruhig, als würde er jeden Tag einen 55 Köpfe und 110 Beine zählenden blauen Wurm vorbei am Matsch, über Erdhügel und schließlich mitten durch den Dancefloor führen, dabei ein Langgedicht improvisierend, das sich ungefähr so anhört: „Sie sind so blau wie ein Fluss, so blau wie ein Bewässerungssystem. Sie sind ein Biotop für Wale, Quallen und Tiefseefische. Welche Farbe hat der Himmel? Sie sehen gut aus jetzt! Sie sahen vorher traurig aus, Ihre Kleidung war mitleiderregend. Sie sind das größte Bekleidungsstück Berlins. Das ist kein Tuch der Schande, mit dem die Bauprojekte des Senats verhüllt werden sollen. Das ist nicht die Bread & Butter. Das ist nicht die Mercedes Benz Fashion Week. Das ist der Spiegel des Himmels. Das ist die Flut, die keiner bestellt hat. Ein gutes Versteck für Steuersünder. Hier wird das Meer des Vergessens über Sie gestülpt.“

Die Aktion ist das Reenactment einer Performance der neo-konkreten brasilianischen Künstlerin Lygia Pape und hat ihren Anlass darin, dass Showcase Beat Le Mot im Sommer auf der hinteren Ecke des Holzmarktgeländes ein temporäres Theater bauen und in den kommenden zwei Jahren bespielen werden. Das Architekten- und Künstlerteam Frauke Köberling und Martin Kaltwasser hat die Pläne für den Ding Dong Dom erstellt, der ein Theater der Zukunft beherbergen soll, in dem 99 Zuschauer Platz finden werden. Zur Einweihung wird man diese per Boot vom Hebbel am Ufer abholen, zwei Sunden später wird man am Holzmarkt anlegen. Aber bis dahin ist noch Zeit. Jetzt ist die Stunde der Kinder und Hunde, die das blaue Wesen tunneln, von links nach rechts und wieder zurück.