Springsteins Pillen

Heute beginnt in Magdeburg der Prozess gegen Thomas Springstein. Der Trainer soll Minderjährige gedopt haben

BERLIN taz ■ Grenzbereich! Rechtsanwalt Peter-Michael Diestel benutzt tatsächlich dieses Wort, wenn er über seinen Mandanten, den Leichtathletik-Trainer Thomas Springstein, spricht und über dessen Fall. „Thomas Springstein hat sich eben sehr intensiv mit dem Grenzbereich des Sports auseinander gesetzt“, sagt Diestel, der letzter Innenminister der DDR war, dann, und dieser Satz soll unter anderem erklären, warum die Staatsanwaltschaft im August 2004 bei einer Hausdurchsuchung in Magdeburg Dopingmittel im Kühlschrank des Trainers gefunden hat. Unter anderem stießen die Ermittler auf Andriol, das den Dopingwirkstoff Testosteron-Undecanoat enthält, Insulin und Wachstumshormon sowie Pläne, wie die Mittel einzunehmen seien. Zum Eigengebrauch, so behaupten es der Rechtsanwalt und sein Mandant nun, sei all der Stoff gewesen, die beiliegenden Vergabelisten hätten ausschließlich Forschungszwecken gedient. Demnach, so wollen die beiden es glauben machen, war der Leichtathletiktrainer Thomas Springstein nichts anderes als ein unermüdlicher Forscher im Grenzbereich – und wer könnte ihn dafür schon verurteilen oder gar ins Gefängnis stecken?

Das Amtsgericht Magdeburg wird sich ab dem heutigen Montag dennoch mit der Frage beschäftigen, in welchen Grenzbereichen Springstein tatsächlich tätig war – und ob er dabei nicht doch Grenzen überschritten hat, und wenn ja, welche. Körperverletzung Minderjähriger lautet die Anklage gegen den 47-Jährigen, weil der durchaus begründete Verdacht besteht, dass Springstein all die Mittel doch nicht nur besessen hat, um die eigenen Muskeln aufzupumpen, sondern sie in mindestens drei Fällen an jugendliche Mitglieder seiner Magdeburger Trainingsgruppe verabreicht hat. Sollte sich der Vorwurf im Laufe der zehn angesetzten Prozesstage bestätigen, droht Springstein eine Haftstrafe von mehreren Jahren.

Es könnte also eng werden für den „Leichtathletiktrainer des Jahres 2002“ – ernst ist die Sache ohnehin. Schließlich war Springstein schon in den Sündenfall der Weltklasse-Sprinterinnen Katrin Krabbe und Grit Breuer verstrickt, die 1992 in einem Trainingslager mit dem Kälbermastmittel Clenbuterol im Urin erwischt wurden. Da Clenbuterol damals noch nicht auf der Dopingliste stand, seine anabole Wirkung aber bekannt war, wurden die beiden Sprinterinnen wegen Medikamentenmissbrauchs für elf Monate gesperrt; Trainer Springstein hingegen kam ungeschoren davon, weil er aus seinem Verein, dem SC Neubrandenburg, austrat, und sich dadurch der Sportgerichtsbarkeit entzog. Ende der Neunzigerjahre tauchte der Name Springstein dann auch im Rahmen der Berliner Prozesse zum Staatsdopingbetrieb der DDR auf. Die ehemalige Leichtathletin und heutige Rechtspflegerin Frauke Tuttas sagte aus, sie habe zwischen 1985 und 1988 das DDR-Allzweckdopingmittel Oral-Turinabol von Springstein erhalten. Tuttas war damals 16!

Nun könnte sich Springsteins Geschichte 16 Jahre nach Mauerfall wiederholen. Denn auch in Magdeburg hat eine 17-Jährige aus Springsteins Trainingsgruppe den Stein, also die staatsanwaltlichen Ermittlungen, ins Rollen gebracht: Die Hürdensprinterin Anne-Kathrin Elbe übergab in einem Trainingslager im Juli 2004 Bundestrainer Thomas Kremer jene Packung Arzneimittel, die ihr Springstein zuvor vertraulich zugesteckt – und die wohl ihren Argwohn geweckt hatte. Der Inhalt: Das Dopingmittel Andriol. Bereits im August erstattete der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) dann Strafanzeige gegen Springstein.

Elbe, die mittlerweile in Leverkusen trainiert und bereits heute aussagen will, im Frühjahr 2003 zwei Rationen Andriol von Springstein erhalten zu haben, ist freilich nicht die einzige Zeugin, die den Magdeburger Coach belastet. Auch die ehemalige Springstein-Schülerin Eileen Müller hat bereits zu Protokoll gegeben, zwischen 2001 und 2003 wiederholt Tabletten „aus Thomas’ Jackentasche“ erhalten zu haben, verbunden mit der Anweisung, sie solle davon niemandem etwas erzählen.

„Das waren erlaubte Mittel“, sagt Rechtsanwalt Peter-Michael Diestel. Andererseits: In Springsteins Grenzbereich war bestimmt Vieles erlaubt.

FRANK KETTERER