Es gibt zu wenig Individualismus in Berlin

KUNSTSZENE Danielle de Picciotto hat vor drei Jahren ihr Haus in Berlin verkauft. Wenn sie von ihrer Kunst leben will, ist sie von Aufträgen von anderswoher abhängig. Über ihren Alltag hat sie ein grafisches Tagebuch verfasst

VON CLAIRE HORST

„Es bricht mir das Herz“, sagt Danielle de Picciotto. „Ich liebe die Stadt und den Idealismus hier. Aber ich weigere mich, einen Nebenjob zu machen.“ Seit 30 Jahren arbeitet die amerikanische Multimediakünstlerin, Filmemacherin, Musikerin, Sängerin und Autorin in Berlin. Davon leben kann sie nur, weil sie immer wieder Aufträge in anderen Städten bekommt. 2010 haben sie und ihr Partner Alexander Hacke, Bassist der Einstürzenden Neubauten, schweren Herzens ihr Haus in Berlin verkauft. Wozu ein Garten, in dem man nicht mal Blumen pflanzen kann, weil sie vertrocknen würden? Seither sind die beiden auf der Suche nach einem Ort, an dem sich kreative Arbeit und Leben verbinden lassen. Davon erzählt de Picciotto nun in ihrem Buch „We are Gypsies now. Der Weg ins Ungewisse“, das Tagebucheinträge und Schwarz-Weiß-Zeichnungen miteinander kombiniert.

Durch seinen Mangel an Wertschätzung kreativer Arbeit vertreibt Berlin seine KünstlerInnen, meint de Picciotto. Wie ein Märchen klingt es, wenn sie vom Dorf Westberlin erzählt: Statt sich von Abschottung, Kälte und politischer Düsternis unterkriegen zu lassen, schleppen die BewohnerInnen Kohlen in ihre Wohnungen und eröffnen Kellerbars, die sie mit Fellen und alten Möbeln dekorieren. Sie gründen Bands, spielen in den Clubs ihrer FreundInnen, geben sich gegenseitig Getränke aus und verkaufen einander selbst gemachte Kleider. Und statt melodiöse Lieder von der heilen Welt zu singen, bauen sie ihre eigenen Instrumente, mit denen sich all das Grau im Krach auflösen lässt.

Ähnlich wie Wolfgang Müllers Buch „Subkultur Westberlin“ hat schon de Picciottos englischsprachiger Erstling, „The Beauty of Transgression“, das verschwundene Dorf beschrieben: In der Welt draußen – Westdeutschland – leisten die Menschen ihren Wehrdienst ab und tanzen zu den Klängen der Neuen Deutschen Welle. In Berlin (West) regieren die Genialen Dilletanten, Menschen, die sich weder Rechtschreib- noch sonstigen Regeln unterwerfen. Gudrun Gut, Wolfgang Müller, Beth Moore Love, Dorothy Carter, Dr. Motte, die Einstürzenden Neubauten – de Picciottos WegbegleiterInnen sind „typische Berlincharaktere, die sich selbst erfunden und ihr eigenes Universum aufgebaut haben“, sagt sie. Das Berlin der 80er mit seiner „übertriebenen Kreativität“ lässt sich mit keinem anderen Ort der Welt vergleichen, meint sie, heute Mitglied der Band Crime and the City Solution. „In Berlin war die Künstlerszene so dominant, dass sie die ganze Stadt geprägt hat.“

De Picciotto malt und filmt, gibt Konzerte, kuratiert Veranstaltungen. Diese Vielfalt ist für sie symptomatisch für das Westberlin der 80er. „Jeder war hier Künstler, Musiker, Schriftsteller und Modedesigner. In Berlin hieß es: Wir respektieren keine Akademien, wir respektieren keine Leute, die Ahnung von Musik haben. Die Neubauten haben gesagt, wir akzeptieren nicht mal das Konzept eines Instrumentes, wir bauen uns die selber.“

De Picciotto war 1987 auf Einladung einer Werbeagentur nach Köln gekommen, um dort Kostüme zu machen. Nach einem Besuch bei einer Freundin, die mit fünf anderen KünstlerInnen in einer Fabriketage wohnte, blieb sie in Berlin. „Bald habe ich dann einen Job bekommen in der Turbine Rosenheim, der ersten Diskothek von Dr. Motte. Mit ihm war ich ziemlich schnell zusammen.“

Sosehr sie die düsteren 80er liebte, mit ihren farbenfrohen Werken blieb de Picciotto auch in Berlin eine Außenseiterin. Von dem melancholischen, existenzialistischen Lebensgefühl hatte sie irgendwann genug: „Ich war nie selbstzerstörerisch. Meine Droge war immer das Kreativsein. Das habe ich bis zum Exzessiven gemacht.“ Und ihre Weigerung, sich einer einzigen Mode anzupassen, ließ die Künstlerin zur Mitauslöserin einer kulturellen Zeitenwende werden: „Motte und ich hatten in England unsere ersten Rave-Partys gesehen. Wir waren ziemlich von den Socken, so bunt und fröhlich, das war das absolute Gegenteil von Berlin.“

Dass sie als Mitinitiatorin der Love-Parade kaum erwähnt wird, überrascht de Picciotto nicht. „In der etablierten Kunst- und Musikszene gibt es einen totalen Mangel an Frauen, die wirklich von ihrer Kunst leben können. Das liegt nicht daran, dass es sie nicht gibt, sondern dass sie nicht erwähnt werden. Die Love-Parade haben wir beide initiiert und konzeptuell erdacht. Ich habe Leute organisiert und die Flyer gestaltet, das war eine gemeinsame Sache.“ Diese Erfahrung animierten sie dazu, in ihrer Galerie „Das Institut“ wenig beachtete Künstlerinnen auszustellen.

Die Zeitenwende um den Mauerfall herum erlebt sie zunächst als Neuanfang. „Mein Gefühl zum Anfang der 90er ist, dass man die ganze Zeit kuscheln wollte. Deswegen gab es auch diese ewig langen After Hours. Durch Ecstacy waren alle so eine fließende Masse. Es hatte nicht dieses Kämpferische, Markante.“ Doch mit der Melancholie verschwand aus Berlin auch die Individualität, meint sie heute: „Damals ist man hierhergekommen, weil man dem Kommerz und den Trends nicht folgen wollte, weil man ein Außenseiter sein wollte. Und da es in Berlin im Prinzip nichts gab, war hier nichts, dem man hätte folgen können. Hier musste man sein eigenes Universum kreieren.“

Als Botschafterin dieser Szene war de Picciotto jahrelang im Auftrag des Goethe-Instituts unterwegs. In Italien oder Hongkong sollte sie Wege aufzeigen, eigene Ideen zu entwickeln und Strukturen aufzubrechen. „In Hongkong hatten sie eine hohe Selbstmordrate, weil alles dermaßen kommerziell war. Die Kids hatten das Gefühl, es hat alles keinen Sinn, sie werden nur arbeiten müssen. Berlin war dagegen bekannt dafür, Sachen infrage zu stellen und Neues zu kreieren.“

Diesen Ruf habe Berlin längst nicht mehr, kritisiert sie: „Der Berliner Charakter ist nach wie vor frech und unangepasst, aber es ist eine Modestadt geworden. Man hört hier Musik, sieht Klamotten, macht Sachen, die international hip sind. Das hat nichts mit Individualität zu tun.“ Daran sei auch eine verfehlte Kulturpolitik schuld, die Kreativität nicht fördert, meint sie. „Das ist es, was mich wirklich ärgert. Denn die Stadt lebt davon.“

Doch ihr Herz hängt immer noch an Berlin, auch weil sie Hoffnung in die Wandelbarkeit der Stadt setzt: „Die Berliner lassen das nicht einfach sang- und klanglos über sich ergehen.“

■ Das grafische Tagebuch „We Are Gypsies Now. Der Weg ins Ungewisse“ ist eben bei Metrolit erschienen, 240 Seiten, 22,90 Euro. „The Beauty of Transgression. A Berlin Memoir“ kam 2001 im Verlag Die Gestalten heraus