1968, Zeit der Aufklärung

RETRO Die Regenbogenfabrik zeigt ausgewählte Filme von Studierenden des kurzlebigen Instituts für Filmgestaltung in Ulm

„Das ist nur der Anfang“ reflektiert über die Rolle des Mediums Film als eigenständiges Instrument innerhalb revolutionärer Aktivitäten

Die Regenbogenfabrik in der Lausitzer Straße ist neben Hostel und Fahrradwerkstatt auch mit eigenem Kino ausgestattet. Dort wird noch bis zum heutigen Abend Zeugnis davon abgelegt, dass es möglich ist, eine schwäbische Stadt zum kulturellen Bezugsrahmen eines langen Wochenendes zu küren.

Das Institut für Filmgestaltung in Ulm wurde in den frühen 60er Jahren gegründet. Dozenten wie Alexander Kluge und Edgar Reitz erkannten und realisierten das Potenzial eines neuen Films, fernab gewohnter Erzählstrukturen und komfortabler Sujets. Doch nur wenige Jahre nach seiner Eröffnung wurde das Institut auch schon wieder geschlossen. Ihm widmete das Regenbogenkino nun eine eigene Retrospektive. Und lieferte mit acht ausgewählten Werken einiger Studentinnen beinahe beiläufig einen ungewohnten, unverstellten und ungeschönten Einblick in Treiben und Alltag der alten, sich noch im Aufbruch befindlichen BRD.

“Ce n’est qu’un début – continuons le combat“ heißt es auf dem handlichen Flyer zum Kinoprogramm des Monats Mai, „Das ist nur der Anfang – der Kampf geht weiter“. Eine Bekanntgabe, eine Vorhersage und gleichsam Titel der Kurzdokumentation Claudia von Alemans. Eine Losung auch, die dann doch ganz gut in die Seitenarme der Reichenberger Straße passt. Im Frühjahr 1968 in Paris für den WDR gedreht, verfolgt „Das ist nur der Anfang“ das Wirken diverser französischer Filmkollektive, zeigt Diskussionen in Universitäten und reflektiert über die Rolle des Mediums Film als eigenständiges Instrument innerhalb revolutionärer Aktivitäten. Von Alemans Dokumentation mit Schwerpunkt Frankreich ist dabei vor allem als Einleitung zu verstehen, als Prolog zur Forderung: Film soll aufklären, anstatt Illusionen zu erzeugen. Eine Haltung, die alle Werke der Retrospektive miteinander verbindet.

Dass dies auf durchaus humoristische Weise zu bewerkstelligen ist, beweist „Zwickel auf Bizyckel“ der Gruppierung rund um Reinhard Kahn und Michel Leiner. In einer Mischung aus dokumentarischem Material und fiktionalen Handlungssträngen erzählt „Zwickel auf Bizyckel“ in lose verflochtenen Episoden vom Schicksal gewöhnlicher Personen: einer Kindergärtnerin, der versehentlich ein Kind über Bord gegangen ist; einem schielenden Bauarbeiter, der sich nur ein wenig eheliche Zuwendung wünscht, und von seiner Frau, die sich lieber die Haare toupiert, als ihrem Mann eine wohlschmeckende Speise zu bereiten. „Zwickel auf Bizyckel“ agiert dabei durchaus diffus, deutet aber gerade durch das gezielte Vorbeischrammen an üblichen narrativen Rhythmen immer wieder auf Pointen, die zu addieren das reinste Vergnügen ist.

Ein fragilerer, zärtlicherer Stil ist in den beiden Filmen von Recha Jungmann zu vernehmen. In „Renate“ porträtiert Jungmann ihr eigenes Kindermädchen, das mit seinen dreizehn Jahren noch mit völlig anderen Augen in die Welt guckt, als es ein Erwachsener je könnte. Im Zentrum von Renates Kosmos erstrahlt Roger Daltrey, Sänger von The Who, auf einem Podest fünfhundert Meter über der Erde. Dabei sieht man Renate mit solch delikater Körperlichkeit über den Boden hüpfen, dass es einem fast die Sprache verschlägt. Ein Kurzfilm, so naiv und intim, wie man ihn selten zu sehen bekommt. Der anschließende „Etwas tut weh“ wagt die Reise in die Vergangenheit, in ein hessisches Dorf und ein verfallendes Haus, das Teile von Recha Jungmanns Familiengeschichte birgt.

Beide Filme, fein und nuanciert, zeugen aber auch von dem Skandal, dass diese Filmemacherin kaum mehr als eine Handvoll Filme realisieren konnte. Ein Befund, der ebenso auf Reinhard Kahn zutrifft. Dessen „Zwickel auf Bizyckel“ sowie die Kübelkind-Reihe von Ula Stöckl und Edgar Reitz sind heute Abend im Regenbogenkino zu besichtigen.

CAROLIN WEIDNER