Neuanfang in ethnischer Eintracht

AUS KIRKUK INGA ROGG

Rizgar Ali Hamajan ist kein Mann diplomatischer Floskeln. Seinen Ärger über die Regierung in Bagdad verschweigt er nicht. „Ibrahim al-Dschaafari hat hier nichts zu melden“, sagt Hamajan. Der irakische Regierungschef hatte vom Provinzrat von Kirkuk, dem Hamajan vorsitzt, die Einstellung von Sicherheitskräften und Beamten aus der Hauptstadt verlangt. Hamajan lehnt dies entschieden ab: Sollte Dschaafari es noch einmal wagen, Beamte in den Norden zu entsenden, werde er sie höchstpersönlich nach Bagdad zurückschicken.

Früher wäre ein solches Verhalten eines Lokalpolitikers unvorstellbar gewesen. Seitdem es in den Provinzen jedoch eigene gewählte Lokalparlamente gibt, verlangen die örtlichen Vertreter in allen Belangen ein Mitspracherecht. Die Zeiten, in denen Bagdad eigenmächtig handeln konnte, sind vorbei.

Dabei genießt der Kurde Hamajan in diesem Fall sogar die Unterstützung der Araber und Turkmenen im Provinzparlament, mit denen ihn sonst wenig verbindet. „In Sicherheitsfragen sollte Bagdad uns die Entscheidung überlassen“, sagt Mohammed Khalil vom arabischen Block. „Wir kennen die Leute und können deshalb auch beurteilen, wer vertrauenswürdig ist.“

Wie in weiten Landesteilen hat sich auch in Kirkuk die Sicherheitslage in den letzten Monaten verschlechtert. Bis Ende November 2005 verzeichnete die Polizei 69 Autobombenanschläge – gegenüber fünf im Vorjahr. Der Gewalt fielen, so Polizeichef General Scherko, bis Ende Oktober 131 Polizisten zum Opfer.

Von kleineren Scharmützeln abgesehen, ist der befürchtete Zusammenprall von Kurden, Turkmenen und Arabern bislang aber ausgeblieben. Im Gegensatz zu Mossul sei es in Kirkuk gelungen, relativ robuste Polizeieinheiten aufzubauen, sagt der scheidende amerikanische Offizier David Petrie. Unentschuldigtes Fernbleiben vom Dienst und Unterwanderung, mit denen die Polizei anderswo zu kämpfen hat, kämen selten vor.

Leutnant Wissam Abdulla Schabib befehligt eine Einheit der schnellen Eingreiftruppe, die bei Terror- und Guerillaangriffen zum Einsatz kommt. Die meisten seiner Untergebenen sind Kurden, er selbst ist Araber. Noch zu Regimezeiten hat Schabib die dreijährige Polizeischule in Bagdad absolviert und dann drei Jahre auf einer Wache in Bagdad gearbeitet. Vor einem Jahr rekrutierten ihn die Amerikaner. Der turkmenischer Kollege, mit dem er sich das Dienstzimmer teilt, kann ebenfalls eine mehrjährige Dienstzeit vorweisen, während ihre kurdischen Untergebenen meist nur die zweimonatige Eilausbildung der Amerikaner durchlaufen haben. „Bei uns gibt jeder sein Letztes“, sagt Schabib. „Ob Araber, Kurden oder Turkmenen, für uns zählt nur eins – die Sicherheit in unserer Stadt.“ Da die drei Bevölkerungsgruppen durch familiäre Bande aneinander gebunden sind, sei allen an einem gut nachbarschaftlichen Zusammenleben gelegen.

Schabibs Einheit ist kein Einzelfall, wie ein Besuch auf verschiedenen Wachen zeigt. Die anfänglichen Animositäten gegenüber den Kurden haben sich etwas gelegt, nachdem die Amerikaner den Nachweis erbrachten, dass die Kurden in den Sicherheitskräften keineswegs in der Überzahl sind, wie Araber und Turkmenen vermuteten.

Doch die scheinbare Gleichheit endet bei den Chefsesseln. Dort hat inzwischen eine Umkehr der früheren Machtverhältnisse stattgefunden. Beinahe alle Führungsposten werden heute von Kurden besetzt, die den beiden mächtigen Parteien Kurdistans angehören. So ist der Polizeichef der Stadt, General Scherko Schakir, Mitglied der Patriotischen Union Kurdistans (PUK). Sein Kollege Colonel Serhat Qadir, zuständig für die ländlichen Regionen, hat ein Parteibuch der Demokratischen Partei Kurdistans (KDP). Von den 6.000 Polizisten stammen 2.500 aus dem Kontingent, das KDP und PUK im April 2003 nach Kirkuk schickte. Bis heute stehen sie auf der Lohnliste der kurdischen Regionalregierung, obwohl die Sicherheitskräfte dem Innen- bzw. Verteidigungsministerium in Bagdad unterstellt sind. Die Kurden werfen Dschaafari vor, er hintertreibe die in der Verfassung vorgeschriebene Wiedergutmachung für das Unrecht, das das Saddam-Regime an den Kurden in Kirkuk begangen hatte. Deshalb auch die harschen Töne von Rizgar Ali Hamajan.

Für ihn wie die Polizeichefs steht fest, dass Kirkuk bald schon zu Kurdistan gehören wird. „Vielleicht werden wir mehr Zeit zur Lösung der Kirkuk-Frage brauchen“, sagt Hamajan. „Verhindern wird es niemand. Wir haben Zeit.“ Um ihr Ziel zu erreichen, setzen KDP und PUK heute vorwiegend auf friedliche Mittel. Das kann sich freilich jederzeit ändern. Mit der Kontrolle der Polizeieinheiten haben KDP und PUK bereits für die Zukunft vorgesorgt.