Klettern fürs Selbstbewusstsein

Die Sonderschule für Erziehungshilfe in Düsseldorf setzt auf Erlebnispädagogik. An der Kletterwand werden SchülerInnen selbstsicher, Außenseiter haben Erfolgserlebnisse. „Das Erlebnis bringt die Rangordnung durcheinander“, sagt die Pädagogin

AUS DÜSSELDORFSANDRINA MAHLBERG

Mitten im Wohngebiet von Düsseldorf-Gerresheim steht das blaue Eingangstor der Martin-Luther-King-Schule. Auf den ersten Blick eine gewöhnliche Schule: Schülerinnen und Schüler wuseln auf dem Schulhof herum. Mittendrin der stellvertretende Schulleiter, Bertram Boeddinghaus. Sie alle freuen sich auf ungewöhnliche Unterrichtsstunden: Die Martin-Luther-Schule lässt ihre SchülerInnen klettern.

Das Sekretariat und das Zimmer des Konrektors sind relativ untypisch für eine Schule, geradezu gemütlich. Und an der Wand hängen Kletterseile. „Dieser Teil der Schule ist die ehemalige Wohnung vom Hausmeister“, sagt er. Der Konrektor schafft es kaum, sich vor SchülerInnen zu retten. Immer wieder klopft es an seiner Tür. SchülerInnen schauen durch den Türspalt, um seinen Rat einzuholen.

Nach kurzer Zeit öffnet sich die Tür wieder. Eine junge Frau tritt ein: Lehrerin Susanne Roßmüller wird an diesem sonnigen Vormittag die Kletter AG unterrichten. Begeistert erzählt Boeddinghaus von der Planung der Kletterwand. „Die Planung startete vor eineinhalb Jahren, mit der Idee den Schülern etwas Attraktives zu bieten.“ Allerdings habe diese Idee auch ihren stolzen Preis gehabt. „Die Gesamtkosten für die Kletterwand und die dazugehörige Ausrüstung beliefen sich auf 9.900 Euro.“ Alles in allem also ein nicht einfaches Vorhaben.

Das neue Projekt der Schule konnte so schnell aber keiner durchkreuzen, wenn auch zunächst die finanziellen Mittel fehlten. „Unsere Schule bietet schon viele Aktionen im Bereich Erlebnispädagogik an und wir haben dadurch wesentliche Fortschritte im Sozialverhalten der Schülerinnen und Schüler beobachtet“, sagt Boeddinghaus nicht ohne Stolz.

Klettern als neue Therapiemöglichkeit für verhaltensgestörte Kinder? Nicht nur LehrerInnen und Eltern waren überzeugt – schnell fanden sich Sponsoren: Der Verein Jugendhilfe V+M Deutschland GmbH spendete 5.000 Euro, der Lions Club 2.500 Euro, die Firma Henkel 2.000 Euro und die Bürgerhilfe Gerresheim 400 Euro.

Jetzt glänzt die Schule mit einer brandneuen Kletterwand. Die dazu gehörige Ausrüstung –Seile, Klettergurte und Karabiner– hängen an einem Kleiderständer im Zimmer des Konrektors. Susanne Roßmüller nimmt einen der Klettergurte vom Ständer und zieht ihn sich über die Hose. Gar nicht so einfach, beim ersten Versuch sitzt er noch nicht richtig, beim zweiten Anlauf klappt es besser. Auf dem Weg zur Kletterwand streunen die SchülerInnen etwas ziellos durch die Gegend. Susanne Roßmüller muss Motivierungs-Arbeit leisten: „Kommt alle zur Kletterwand!“

Ein wenig versteckt, am Ende des Schulhofs, hinter der Turnhalle, befindet sich die 12,50 Meter hohe Wand. Sie ist vorsorglich an der Außenwand der Turnhalle angebracht. Die ersten Meter sind aus Sicherheitsgründen mit einer Holzvorrichtung verschlossen.

Inzwischen sind auch die letzten Schüler eingetroffen und haben eine weitere Lehrerin im Schlepptau. Die Schüler laufen herum, spielen zwischendurch Fußball und sind nicht so ganz bei der Sache. Ungewöhnlich? Nicht wirklich – bis jeder an der Reihe ist, vergeht viel Zeit. Maximal zwei Personen können an der Wand klettern. „Die wartenden Schüler sollen sich in der Zwischenzeit gegenseitig sichern“, sagt Roßmüller. Bisher sind dafür allerdings noch die LehrerInnen zuständig. Das Projekt steckt schließlich noch in den Anfängen.

Erst seit diesem Schuljahr steht das Klettern als Teil des Sportunterrichts auf dem Lehrplan. „Vorerst lassen wir nur Schüler sichern, auf die man sich verlassen kann“, sagt Susanne Roßmüller: „Das Ziel dieser Art von Erlebnispädagogik ist allerdings allen Schülern Verantwortungs- und Selbstbewusstsein einzuflößen.“ Das sei tatsächlich schon nach wenigen Stunden zu beobachten.

„Kevin ist einer der besten Kletterer“, sagt Roßmüller zu dem blonden Schüler, der in den Startlöchern steht und grinst. Kevin knotet eine Acht in das von der Kletterwand hängende Seil und verbindet es mit seinem Klettergurt. Als erster startet er in die Höhe, seine Aufgabe ist es am Ende der Wand ein anderes Seil einzuhängen, so dass zwei SchülerInnen gleichzeitig klettern können. Ziemlich schnell ist der flinke Kletterer am Ende der Wand angelangt, hängt das zweite Seil in die vorgesehene Vorrichtung und wird danach etwas verschwitzt auf den Boden heruntergelassen.

Aber nicht immer ist den LehrerInnen die neue Förderform geheuer. „Manchmal träume ich, dass einer der Schüler von der Kletterwand fällt“, sagt der Konrektor. Kevin hingegen findet das Ganze relativ harmlos: „Ich fand es toll, einfach mal schweben.“ Ein wenig erschöpft steht er auf dem Boden der Tatsachen und erntet bewundernde Blicke seiner Mitschüler. „Außenseiter, die beim Klettern hervorragende Leistungen bringen und besser sind als andere, werden von ihren Mitschülern seltener ausgestoßen und missachtet“, sagt Roßmüller. So könne die Rangordnung unter den Kids aufgehoben werden.

Julian reicht das Klettern alleine jedoch nicht aus. „Ich will blind klettern. Wo ist die Maske?“, schreit er. Schnell steht er startklar mit verbundenen Augen an der Wand und wagt den ersten Versuch. Die anderen Schüler rufen ihm genaue Anweisungen zu: „Deinen rechten Fuß mehr nach links“.

Und das Prinzip des Projektes funktioniert: Die SchülerInnen arbeiten miteinander. Blindes Klettern sei nicht nur körperlich eine größere Herausforderung, sagt die Lehrerin. „Auch das Verantwortungsbewusstsein unter den Schülern wird besonders gestärkt, vor allem wenn sie sich gegenseitig sichern und sich vertrauen müssen“.

Nicht alle sind geborene Kletterer. „Ich hab kein Vertrauen zu niemandem“, sagt ein Junge mit einer blauen Kapp. Doch auch sein Misstrauen zerschellt an der Kletterwand. Ohne weitere Aufforderung kraxelt auch er hinauf.