Krämer aus der Not heraus

AUS KÖLN THOMAS SCHINDLER

Hastig stellt der Kunde zwei Kölsch auf den Ladentisch. „Noch‘n Päckchen Drum und Gizeh Special. Und zwei Snickers.“ Mehmet langt mit der einen Hand nach den Blättchen neben der Kasse, mit der anderen in den Karton über ihm. Dann schaut er den jungen Mann erwartungsvoll an. „Nein, der hellblaue Tabak daneben, bitte.“ Mehmet überlegt kurz. „Macht 8 Euro 20.“ Der Kunde hat es passend und verstaut das Bier in seinem Rucksack. Beim Hinausgehen fällt sein Blick auf das Regal mit den Spirituosen. „Du willst 19 Euro für ne Flasche Jack Daniels?“ fragt er mit gespieltem Erstaunen. „Bei mir gibt‘s ne Flasche Cola dazu“, macht Mehmet einen Versuch. Der Kunde nickt desinteressiert und verlässt den Laden.

Mehmets rundes Gesicht verfinstert sich. „19 Euro für Jack Daniels ist nicht zu viel, der da drüben will 22“, erzählt der 46-Jährige Türke, der unweit des Kölner Barbarossaplatzes einen Kiosk betreibt. Er macht dabei eine wegwerfende Handbewegung und sinkt dann zurück in seinen Gartenstuhl mit Blümchenbezug hinter der Theke. Neben dem unterhalb der Decke angebrachten kleinen Fernseher ist der Sitzplatz der einzige Luxus, den sich der Kleinunternehmer an seinem Arbeitsplatz leistet.

Seit drei Jahren ist Mehmet Kioskpächter. Sein Geschäft ist keins der 832, die bei der Kölner Industrie- und Handelskammer geführt werden, denn Mehmet gilt als Kleinstgewerbetreibender – zu gering ist der Umsatz, den er mit seinem völlig zugepackten 15 Quadratmetern macht. Allein hier, in unmittelbarer Nähe zum Barbarossaplatz, zählt man auf Sichtweite mehr als ein halbes Dutzend Kioske, fast alle befinden sich in türkischer Hand. Von Nischenwirtschaft jedoch kann keine Rede sein. Wer bei ethnischer Ökonomie an exotische Waren in traditioneller Atmosphäre denkt, sitzt einem marktwirtschaftlichen Mythos auf. In der Kölner City herrscht ein Überangebot an weitgehend identischen Waren. Mancher Pächter hält keine sechs Monate durch.

Was für die Kunden und ihr Bedürfnis nach wohnortnaher Versorgung von Vorteil ist, lässt Mehmet an der Fortexistenz seines Ladens zweifeln. „Eine Flasche Kölsch zu 1,10 oder 1,00 Euro, für Stammkunden zu 90 Cent, weniger kann ich nicht machen. An Zigaretten und Zeitschriften verdienst du so gut wie nichts. Dann die Miete. Die ist hoch, viel zu hoch für ein so kleines Geschäft.“ In Mehmets Kiosk stapeln sich Bierkästen, Plastikwasserflaschen und Kartons aller Art. Auch hinter der Theke bleibt Mehmet nicht mehr Platz als in einem Beichtstuhl.

Mehmet, der eben noch wie auf Stand-by gestellt wirkte, ist plötzlich erregt. Er steht wieder auf, spricht schneller und übertönt das Surren der Kühlschränke. Sein eigentlich gutes Deutsch wird nun unsauber. Er will von den Wirrnissen der Geschäftssprache erzählen. Ein junger Mann habe beispielsweise eine Büchse Ravioli verlangt. Da habe er mehrmals nachfragen müssen. „Büchse? Nie gehört!“ Mehmets Wort ist Dose. Er sagt auch „Penner“ statt Obdachlose. Auf sie kommt er zu sprechen, weil ein Kiosk gleich um die Ecke Star Pils für 50 Cent verkauft. „Davor stehen die dann den ganzen Tag, das möchte ich hier nicht“, sagt Mehmet, der, wie er betont, nie Kaufmann hatte werden wollen. Er habe Jahre lang bei einer Spedition gearbeitet, auch als Fahrer im Kurierdienst. Das seien Jobs gewesen, „wo man unterwegs ist, von der Welt was sieht“. Seit drei Jahren nun der Kiosk, geboren aus der Not heraus, weil die Spedition Pleite gemacht hat und er beim Kurierdienst nur einen befristeten Arbeitsvertrag hatte. Mehmet atmet durch, schaut aus dem Fenster und seufzt. „Wenn ich raus kucke, denke ich manchmal, das ist ja wie im Gefängnis hier.“

Gegenüber, auf der anderen Straßenseite, sitzt die Konkurrenz. Mit seinem eleganten Hemd samt farblich abgestimmter Stoffhose zu mattierten Lederschuhen wirkt der 50-jährige Ekrem wie ein Teppichhändler. Sein geräumiger Kiosk ist eher eine Mischung aus Stehcafé und Lebensmittelgeschäft. In der Mitte ist ein Stehtisch aufgestellt, an dem sich ein türkischer Freund zum Teetrinken eingefunden hat. Aus dem Radio ertönt türkische Popmusik. Es wird gescherzt, Ekrem ist bester Laune. Überhaupt wirkt das Ambiente einladend. Die Regale sind mit Stoff überzogen, der Raum ist lichtdurchflutet und ein paar Topfpflanzen sorgen für freundliche Atmosphäre. Neben einem großen Angebot an Konserven, Spirituosen und Zeitschriften führt Ekrem ein Sortiment von rund 50 verschiedenen Weinen, die er in einem schweren Eichenregal lagert. Ein kleiner Garten Eden für suchtanfällige Geister.

Ekrem führt seinen Laden seit nunmehr neun Jahren, sieben Tage die Woche, 16 Stunden täglich, ausgenommen zwei Wochen Sommerurlaub in der Türkei. Finanziell geht es ihm nicht schlecht damit. In nahezu akzentfreiem Deutsch klagt er zwar ebenfalls über die hohen Mieten, allerdings liege sein Geschäft „sehr günstig“, direkt zwischen den Bars der Zülpicher Straße. Am Wochenende sei bei ihm „die Hölle los“. Ekrem sieht mit Besorgnis, dass in letzter Zeit ein Kiosk nach dem anderen in seiner Gegend neu eröffnet, allein zwei im letzten Monat. „Es ist nicht genug für alle da.“

Nachdem er zwei Stammkunden mit Handschlag begrüßt hat, die unentschlossen vor dem Weinsortiment verweilen, fährt er fort. „Ich verstehe das schon. Die Leute verlieren ihre Jobs.“ Sein Freund Faruk unterbricht ihn. „Ja, was kann man da machen? Bald Entlassungen bei Ford. Wird alles härter.“ Ekrem setzt erneut an: „Die Leute verlieren ihre Jobs und wissen sich nicht anders zu helfen, als einen Laden aufzumachen. Als Türke kriegst du keine Arbeit mehr, nur weil du zwei gesunde Hände hast. Kiosk, vielleicht noch Taxi, so sieht das aus.“

„Taxi ist auch nicht mehr so einfach“, ergänzt Faruk, während er sich neuen Tee einschenkt. Beide Männer setzen sich offenbar regelmäßig mit den Debatten der Zeit auseinander. Ekrem liest, wie er sagt, fast täglich den Kölner Stadt-Anzeiger und auch den Express. Er beginnt zu grinsen und kneift sein linkes Auge zu: „Ich lese nicht nur Hürriyet. Das mit dem Muslim-Test in Baden-Württemberg, das habe ich auch gelesen.“ Ekrem greift in die Brusttasche seines Hemdes und holt eine Zigarette heraus. „Alles Unsinn“, merkt er lapidar an, zündet sich die Fluppe an und nimmt einen tiefen Zug.

Faruk zieht seine Jacke an. „Ich muss los, eine Bombe bauen!“ Die Männer lachen genüsslich und verabschieden sich. Ekrem klopft seinem Gast auf die Schulter und sagt: „Manchmal machen wir Türken auch Witze, wenn wir nicht gerade klauen oder Tiere schächten!“ Darauf ein Kölsch. Auch die Stammkunden haben ihre Wahl getroffen. Es soll ein Vina Albali, 1999 Reserva, zu 8,50 Euro sein. „Gebt mir acht“, sagt Ekrem. „Weil ihr‘s seid.“