Das Schweigen der Lämmer

KIRCHE Schuld an den Missbrauchsfällen in katholischen Einrichtungen ist nicht nur der Zölibat, sondern ein verkorkstes Sexualklima und der allzu feste Glaube der Mitglieder

Täter wurden nicht zur Rechenschaft gezogen, sondern zur nächsten Wirkungsstätte weitergeschickt

VON BERNHARD PÖTTER

Natürlich die Pfaffen! Die Reaktion auf den Missbrauch von Kindern und Jugendlichen am Berliner Jesuitengymnasium Canisius-Kolleg ist vorhersehbar. Wieder einmal steht eine Institution der katholischen Kirche zu Recht in der Kritik, weil in ihr jahrelang sexuelle Verbrechen an Kindern verübt wurden. Es gibt eine lange Liste mit solchen Schandtaten im Namen des Herrn, zuletzt waren es pädophile Priester in den USA und in Irland.

Schnell ist eine Erklärung bei der Hand: Der Zölibat, die erzwungene Ehelosigkeit der katholischen Priester, soll die Schuld an solchen Verbrechen tragen – wer keinen Sex mit Frauen haben darf, reagiert sich an kleinen Jungs ab, ist der Gedanke dahinter. Mal abgesehen davon, dass dabei wild Hetero- und Homosexualität, Sex unter Erwachsenen und Sex mit Abhängigen, Liebesbeziehungen und Machtdemonstrationen durcheinander geworfen werden – ein solcher Kurzschluss verschleiert Verantwortlichkeiten. Schuld tragen die Täter und ihre Vorgesetzten, nicht Kirchenregeln.

Zu Recht wird daran erinnert, dass sexueller Missbrauch keine Domäne der katholischen Kirche ist, er geschieht auch in Familien, Sportvereinen und staatlichen Schulen. Und überall wurden lange dieselben Fehler gemacht: Täter wurden nicht zur Rechenschaft gezogen, sondern zur nächsten Wirkungsstätte weitergeschickt. Dieses organisierte Wegschauen trifft aber gerade die Kirchen, die besonders in der Sexualmoral einen hohen moralischen Anspruch formulieren und denen Eltern ein manchmal zu großes Vertrauen schenken. Statt des Schweigens der Lämmer bräuchte aber gerade eine christlichen Erziehung Eltern, die hinschauen und nachfragen. Oder warum wird es nicht als Problem begriffen, dass eine Ausbildung von Kindern zu gesunden Persönlichkeiten ausgerechnet von Menschen geleistet werden soll, die mit der Sexualität einen wichtigen Teil ihrer Persönlichkeit abspalten?

Der Zölibat ist nur ein Symptom, nicht die Ursache. Die liegt in der verklemmten Sexualmoral der katholischen Kirche. Dabei fordert das Kirchenrecht von einem Priester eigentlich nur die Ehelosigkeit, keinen Verzicht auf Sex. Und der Zölibat ist eine Verwaltungsvorschrift, die keine wirkliche theologische Begründung hat, sondern sich aus der Tradition herleitet. Ordensleute allerdings geloben beim Eintritt ins Kloster neben Armut und Gehorsam auch „Keuschheit“, Jesuiten sogar noch zusätzlich Treue zum Papst. Die Täter von Tiergarten haben sich also in der Gedankenwelt der Kirche gleich mehrfach versündigt: Gegen die Kinder, aber eben auch gegen ihr Gelübde, gegen ihren Orden und schließlich auch gegen den Papst.

Der trägt keine Mitschuld, aber Verantwortung für ein Klima, das solche Übergriffe ermöglicht und deckt. Denn es ist auch innerhalb der katholischen Kirche ein offenes Geheimnis, dass ihre Leibfeindlichkeit ein Haupthindernis zu einer menschlichen Gemeinschaft ist. Schon vor 20 Jahren hat der (später geschasste) Priester und Psychotherapeut Eugen Drewermann die psychischen Defizite der Kleriker beschrieben. Seitdem hat sich die Lage eher noch verschlimmert. Das Milieu zieht Menschen an, deren Sexleben auf dem Niveau eines Pubertierenden stehen geblieben ist.Das sind dann Priester, die von einem Intimleben auf Augenhöhe mit einem Partner nur träumen können, für die eigene sexuelle Erfahrungen immer mit Schuld und Heimlichkeit verbunden sind. Und der Priestermangel führt dazu, dass manche Bistümer offensichtlich ungeeignete Kandidaten zu Priestern weihen.

Wie legt man einen solchen Sumpf von Lebensfeindlichkeit und – die Kirche würde sagen – Unmoral trocken? Eltern sollten beim Pfarrer genauso kritisch hinschauen wie beim Fußballtrainer. Das Canisius-Kolleg und der Jesuitenorden könnten in die Offensive gehen und eine Konferenz aus Theologen, Soziologen, Medizinern und Missbrauchsopfern einberufen, um darüber zu reden, welche Strukturen in der Kirche dem sexuellen Missbrauch Vorschub leisten. Früher haben die Kirchen für drängende Probleme eigene Orden gegründet oder Lehrstühle an Universitäten geschaffen. Die Frage, ob die Strukturen der Kirchen eher zu befreiendem Handeln oder zu lebensfeindlichen Missbräuchen einladen, wäre deutlich wichtiger als theologische Debatten und hätte ein eigenes Forschungszentrum verdient.

All das wird unter dem deutschen Papst nicht passieren. Aber wenn man irgendwo Wunder erwarten darf, dann doch wohl in der katholischen Kirche.

■ Bernhard Pötter war von 1976 bis 1984 Schüler des Canisius-Kollegs. Er hat seine Schule als liberal und weltoffen in guter Erinnerung.