Die Nähmaschinen retteten ihr Leben

BANGLADESCH Beim Einsturz der Textilfabrik hatten Nasrin und Milon Glück. Nun geht es um die Entschädigung

■ Mit einer Trauer-Demo hat eine Gruppe von 15 Frauen und Männern am Mittwochabend in der Hamburger City der Opfer der eingestürzten Textilfabrik in Savar gedacht. Vor den Filialen der Bekleidungshäuser KiK, C&A und H&M forderten sie laut epd mehr Arbeitssicherheit, Gewerkschaftsfreiheit und eine bessere Bezahlung der ArbeiterInnen in Bangladesch.

■ Die Firma KiK räumte am Mittwoch gegenüber dem NDR-Magazin „Panorama“ ein, dass sie noch bis kurz vor dem Unglück Kleidung aus der Fabrik im Rana Plaza bezogen hatte. In den Trümmern war eine Bluse aus der Verona Pooth Kollektion 2013 aufgetaucht. Noch vor einer Woche hatte KiK erklärt, seit 2008 „keine direkten Geschäftsbeziehungen“ mit den dort ansässigen Lieferanten mehr zu haben. Jetzt erklärte KiK auf Nachfrage von „Panorama“: „Unsere Nachforschungen haben jetzt aber ergeben, dass indirekt über einen unserer Importeure bis Anfang dieses Jahres dort produziert wurde.“ (taz/dpa/ots)

AUS SAVAR LALON SANDER

Zwei Wochen nach dem Einsturz des Rana Plaza geht es nicht mehr darum, Menschenleben zu retten, sondern den Schutt behutsam abzutragen, um die darin verwesenden Leichen möglichst unbeschadet zu bergen. Von der Moschee gegenüber dem Unglücksort klingen pausenlos Suren herüber. Polizisten sitzen unter einer Plane, sichtlich gelangweilt.

Das Rana Plaza mit seinen acht Etagen war eines der größten Gebäude in der Kleinstadt Savar, die vor allem aus einer vierspurigen Hauptstraße und kleineren Gassen besteht. Die Armee, die hier jetzt das Sagen hat, ließ eine Seite der Hauptstraße für die Bergungsarbeiten sperren. Auf den anderen zwei Spuren drängeln sich Busse, Autos, Lastwagen und Fahrradrikschas. Plötzlich fährt ein überdeckter Lkw los: „Kostenlose Leichenbeförderung“ steht darauf. Ein süßlicher Geruch hängt in der Luft.

In einer Nebenstraße wohnt Milon, der im dritten Stock des Fabrikgebäudes als Näher gearbeitet hat. Er trägt ein graublaues T-Shirt und einen Lungi-Rock. Anderthalb Jahre lang ist er täglich diesen Weg gelaufen, zuerst auf der gepflasterten, dann auf der ungepflasterten Straße, dann an einem leeren Grundstück vorbei bis zu seinem Trakt. Von einem schmalen zementierten Hof aus geht es in sieben Einzimmerwohnungen, vier auf der einen Seite, drei auf der anderen. Küche und Klo werden gemeinsam genutzt. Milon, seine Frau, die 6-jährige Tochter und der 2-jährige Sohn teilen sich ein Zimmer von etwa 14 Quadratmetern: Dort stehen ein Doppelbett, eine Kommode, ein Kühlschrank und zwei Stühle.

Milon ist der Alleinverdiener der Familie: Zum Grundlohn von 2.900 Taka erhielt er 1.800 Taka Überstundenzuschlag, insgesamt 47 Euro. Dafür hat er täglich mindestens 10 Stunden gearbeitet, nur selten gab es einen freien Tag pro Woche.

Alle, die an diesem verhängnisvollen 24. April im Rana Plaza arbeiteten, können sich genau erinnern, was sie gemacht haben, als das Gebäude einstürzte und wann sie gerettet wurden: Um 8.45 Uhr fällt der Strom aus. Als die Generatoren anspringen, geben ihre Vibrationen dem Haus, an dem schon am Vortag Risse entdeckt worden waren, den Rest. Die Arbeiter rennen um ihr Leben. „Ich bin auf die Knie gefallen und mir fiel Schutt auf den Kopf und auf die Hand“, sagt Milton. Jedes Mal, wenn er die Geschichte erzählt, spielt er die Szene nach: geht auf ein Knie, hebt einen Arm, zeigt auf die Narben am Kopf und auf der Hand.

Im umherfliegenden Staub bekommt er kaum Luft. Mit einem Handy leuchtet er um sich, sieht zahlreiche Leichen und ein halbes Dutzend Überlebende. Die Luft wird knapp. Am Abend brechen Soldaten durch die Wand, durch das Loch können Milon und die anderen heraus. Aus dem Armeekrankenhaus wird er nach einer Nacht entlassen, zu Hause muss er mehrere Tage vor Erschöpfung und Schock im Bett bleiben.

Auch Milons Schwester, sein Bruder und mehrere seiner Freunde haben in der Fabrik gearbeitet. Für die Nachbarstochter hatte er sich beim Vorarbeiter eingesetzt, auch sie bekam einen Job. Nun stehen alle in dem Zimmer und zeigen ihre Fabrikausweise oder Krankenhauspapiere.

Dokumente sind jetzt wichtig, es soll Entschädigung geben. So hat es die Premierministerin versprochen, so hat es der Verband der Bekleidungsexporteure (BGMEA) versprochen. „Ich glaub’s erst, wenn ich das Geld in der Hand habe“, ruft Milon, „Es wird viel gesagt und geschrieben, aber hier kommt am Ende nichts an.“

Am frühen Nachmittag des 7. Mai kommt der Anruf: „Onkel Malek sagt, sie verteilen die Löhne“, ruft Milons Bruder. „Auf dem Feld neben der Kaserne.“ Der Unglaube ist verflogen: Milon fährt in seine Hose, die Gruppe läuft zur Hauptstraße. Für die 10 Kilometer Busfahrt zahlen sie je fünf Taka, fünf Cent.

Auf dem Sportfeld des Militärs haben sich Hunderte TextilarbeiterInnen versammelt. Es geht bunt zu, in Gelb-, Grün- und Orangetönen. Die Frauen tragen den traditionellen Salwar-Kamis, ein langes Hemd und Hosen, die Männer Bundfaltenhosen und T-Shirts. Nasrin ist eine 25-jährige Näherin aus dem 8. Stock, die von ihren Vorarbeitern am Unglückstag zum Arbeiten gedrängt wurde. Kurz nach Beginn habe es einen lauten Knall gegeben, der Boden sei abgesackt, erzählt sie. Die Nähmaschinen hätten die Decke hochgehalten, so dass sie und fünf andere noch liegen oder sitzen konnten. Nach zwei Stunden wurden sie gerettet.

Milon ist der Alleinverdiener der Familie: Zum Grundlohn von 2.900 Taka erhielt er 1.800 Taka Überstundenzuschlag, insgesamt 47 Euro. Dafür arbeitete er täglich mindestens 10 Stunden

Rashida, eine Helferin aus dem 3. Stock, hat das Unglück nicht überlebt. Ihr Bruder Schorol ist gekommen, hat ihren Arbeitsvertrag und eine Geburtsurkunde dabei. Für den Transport ihrer Leiche im Krankenwagen heim ins Dorf im Nordosten von Bangladesch musste er 14.000 Taka zahlen, 140 Euro. Weil er deshalb tagelang nicht zur Arbeit ging, hat Schorol seinen Job verloren.

Die Löhne werden vom Verband der Textilexporteure (BGMEA) ausgezahlt, die Fabrikbesitzer sind ja in Haft. Ein Mann mit Megafon gibt durch: Hier gibt es nur Geld für Überlebende. Das Geld für Vermisste wird vorerst zurückgehalten, das Geld für Tote anderswo verteilt.

Der Chef des Wohlfahrtskomitees des BGMEA ist ein dicker Mann mit Bart und weißer Mütze – die äußeren Zeichen muslimischer Frömmigkeit. Er erklärt, was die Arbeiter erwarten können: das Gehalt für den April, einen Monatslohn pro Arbeitsjahr und für vierzig Tage Urlaubsgeld. Die anwesenden Gewerkschafter nicken: Das entspricht dem Gesetz.

Auch Milon scheint zufrieden. Er müsste vier Monatslöhne erhalten, wenn die anderthalb Jahre Arbeit auf zwei aufgerundet werden. Es ist später Nachmittag, die Sonne brennt noch. „Wer nicht mehr stehen kann, sollte sich hinsetzen“, ruft der Mann mit dem Megafon. Erst gegen 23 Uhr wird das Geld verteilt.

Milon erhält drei Monatslöhne, weniger als ihm zusteht. Insgesamt sind es 17.640 Taka, 170 Euro. Er nimmt sie und geht nach Hause. Jetzt braucht er nur noch einen Job.