Die Illusion von der Koexistenz

Gentechnik und herkömmlicher Anbau können bloß in der Theorie nebeneinander exisitieren. Praktisch ist dieser Wunsch der EU unmöglich. Alles läuft auf einen Konflikt hinaus: zwischen den Agrarkonzernen und den gentechnikfreien Regionen Europas

Als im Jahre 1996 die ersten gentechnisch veränderten „Roundup-Ready“ Sojabohnen aus den USA in Europa eintrafen, galt dies allgemein als Startschuss der unaufhaltsamen Einführung einer neuen Technologie in der Land- und Lebensmittelwirtschaft. Greenpeace-Aktionen gegen die Frachter in Hamburg und Rotterdam wurden als sympathische Maschinenstürmerei belächelt.

Dass auch zehn Jahre später in Europa, mit marginalen Ausnahmen in Spanien und Rumänien, noch immer keine Gentech-Pflanzen angebaut werden, hätte damals kaum jemand für denkbar gehalten. Erst recht nicht, dass auch weltweit noch immer nur zwei, bereits in den Achtzigern entwickelte gentechnische Eigenschaften in vier Kulturpflanzen (Mais, Soja, Raps und Baumwolle) auf dem Markt sind.

Als gewagt hätte freilich auch die Prognose gegolten, dass diese 2006 auf 80 Millionen Hektar anwachsen und dass ihre Patente zu über 90 Prozent von einer einzigen Firma, Monsanto, stammen. Die Fronten haben sich verhärtet in dem Streit um die Gentechnik, der in den vergangenen zehn Jahren zunächst in Europa und mittlerweile weltweit entbrannt ist.

Ginge es in der EU so demokratisch zu wie in der Schweiz, wäre er wohl schnell entschieden. Die klare Mehrheit, die dort im November den Anbau gentechnisch veränderte Organismen (GVOs) bis auf weiteres ablehnte, käme vermutlich in fast allen europäischen Staaten zustande. Eine solide Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger will GVOs weder im Essen noch in der Natur.

Dabei geht es längst nicht mehr allein um mögliche Gesundheitsschäden, auch nicht um die unabsehbaren ökologischen Risiken der Technologie. GVOs sind zum Symbol für eine seelenlose, industrielle Landwirtschaft geworden, bei der natürliche und kultivierte Vielfalt, Eigenarten des Geschmacks und die Selbstständigkeit bäuerlicher Produktion unter die Räder zu kommen drohen.

Es geht um ethische Grenzen der Zurichtung der Natur und darum, ob Lebewesen und ihre Eigenschaften wie Maschinen oder Software patentiert werden dürfen. Zur Diskussion steht auch die beispiellose globale Konzentration der Agrarchemie- und Gentechnikkonzerne – und damit die Frage, wer die wirtschaftlichen sowie kulturellen Gewinner und Verlierer sein werden. Wir stehen vor einer Verschmelzung von Chemie, Biotechnik und Landwirtschaft zu einem weltweit integrierten und kontrollierten Markt.

Auch die Frage der Unabhängigkeit der Wissenschaft zwischen öffentlicher Rolle und privatwirtschaftlicher Abhängigkeit hat in der Gentechnikdebatte einen neuen Kristallisationspunkt gefunden. Ein Lehrstück Europäischer Demokratie. Alle Grundsatzentscheidungen in Bezug auf die Zulassung, Anwendung und Kontrolle von GVOs in Europa werden mittlerweile in Brüssel gefällt. Nationale Spielräume, etwa bei der Ausgestaltung der Haftung im Gentechnikgesetz, sind auf wenige Bereiche beschränkt. Und weil Europas Gesellschaften und Regierungen ein Konsens über die Grundsatzfragen fehlt, ist die Politik und Gesetzgebung der EU an Widersprüchlichkeit schwer zu überbieten.

Auf der einen Seite gelten in offiziellen Stellungnahmen der EU-Kommission die offensichtlichen Risiken grundsätzlich als „überbewertet“, die Öffentlichkeit als „einseitig“ oder schlecht informiert“. Millionen von Euro wurden in Informations- und Akzeptanzprogramme gesteckt. Mit unerwünschtem Erfolg: Meinungsforscher fanden heraus, dass mit dem Wissen der Bürger auch deren Ablehnung der Agro-Gentechnik wuchs. Milliarden werden in Gentechnikforschung und -entwicklung investiert, um den technologischen Anschluss nicht zu verpassen. Traditionelle Agrar- und Biotechnikforschung dagegen fristen ein Schattendasein.

Auf der anderen Seite ist in der EU gegenwärtig nur ein einziges Gentechnik-Konstrukt zum kommerziellen Anbau zugelassen. Die Maissorte „Mon 810“ der Firma Monsanto, die ein Gift gegen Insekten produziert. Für den Import und Einsatz in Lebens- und Futtermitteln sind gut 20 Konstrukte zugelassen, die entweder unempfindlich gegen ein bestimmtes Herbizid sind oder selbst ein Insektizid produzieren. Zwischen 1998 und 2004 hatten die EU-Staaten unter Missachtung der eigenen Gesetze ein generelles Zulassungsmoratorium erlassen. Seither wurden gerade einmal vier neue Import-Zulassungen erteilt, nicht eine einzige für den Anbau.

Und auch diese vier Zulassungen waren nur durch ein EU-typisches Schlupfloch möglich: Wenn der Rat der Minister dies nicht mit qualifizierter Mehrheit ablehnt, kann die EU-Kommission auch gegen eine Mehrheit der Mitgliedstaaten Zulassungen erteilen. Nur einmal fuhr der Ministerrat der Kommission in die Parade: Als die Kommission im September 2005 beantragte, nationale Verbotsverfügungen in Österreich, Luxemburg, Griechenland, Deutschland und Italien gegen bereits erteilte EU-Zulassungen aufzuheben, lehnten dies die Minister mit qualifizierter Mehrheit ab.

Der einzige politische Minimal-Konsens auf den sich Befürworter wie Gegner der Gentechnik bisher einigen konnten ist die „Wahlfreiheit“ der Bürgerinnen und Bürger. An der Ladentheke ist dies durch Kennzeichnungsregelungen zu gewährleisten. Hersteller und Supermärkte garantieren mit aufwendigen Kontrollprogrammen, dass in keinem ihrer Produkte eine Zutat mehr als maximal 0,9 Prozent gentechnischer Bestandteile enthält. Als GVO gekennzeichnete Ware ist so gut wie nirgends zu finden.

Auch gentechnisch veränderte Futtermittel sind zu kennzeichnen, nicht aber Milch, Eier und Fleisch, die damit produziert werden. Unbemerkt vom Verbraucher werden so jährlich rund 15 Millionen Tonnen gentechnisch veränderter Soja aus den USA und Argentinien zu Tierfutter verarbeitet. Zwar hat es niemand bestellt, doch die süd- und nordamerikanischen Rohstoff-Monopolisten Cargill, ADM und Bunge liefern nur ungern und gegen Aufpreis gentechnikfreie Ware.

Die europäische Futtermittelbranche, ohnehin kein Vorreiter von Transparenz und Verbraucherschutz, präsentiert sich als unschuldiges Opfer. Dennoch wächst der Markt für zertifiziertes gentechnikfreies Futter. Auf dem Acker stößt die Wahlfreiheit allerdings schnell an natürliche Grenzen. Pollen wird von Wind und Getier Kilometer weit getragen. Saatgut wird durch Maschinen und Menschen oft noch weiter verschleppt und überwintert zuweilen jahrelang im Boden. Einmal in wilde Pflanzen ausgekreuzt, sind gentechnische Veränderungen nicht mehr einzufangen.

Selbst bei Mais, der in Europa weder natürliche Verwandte noch Chancen zur Überwinterung hat, ist der erforderliche Aufwand zur Trennung gentechnischer und gentechnikfreier Kulturen immens. Die von der EU-Kommission und der Industrie postulierte Koexistenz, die ein unbehelligtes Nebeneinander von konventionellem, biologischem und gentechnischem Anbau und so die Wahlfreiheit der Landwirte garantieren soll, erweist sich als Mogelpackung, mit der es sich nur solange politisch bequem leben lässt, wie sie nicht von der Wirklichkeit, sprich: nennenswertem Anbau transgener Pflanzen eingeholt wird.

Weil sie sich nicht darauf verlassen wollen, dass dies auch in Zukunft so bleibt, machen jetzt die politischen Einheiten Europas mobil, die in der Praxis davon unmittelbar betroffen wären. Über Landwirtschaft mit oder ohne Gentechnik lässt sich nicht auf dem einzelnen Bauernhof entscheiden. Bauern und Verbraucher wollen sich dies aber auch nicht aus Brüssel vorschreiben lassen. Für eine Entscheidung vor Ort allerdings sind weder die europäischen noch die nationalen Gesetze gemacht. Der heraufziehende Konflikt verspricht spannend zu werden. BENEDIKT HAERLIN