Zurück zur Sinnlichkeit!

GUTES ESSEN In Deutschland landen jährlich elf Millionen Tonnen Lebensmittel in der Mülltonne – jedes achte Produkt, das Kunden einkaufen. Tafelbewegung und Freeganer machen es besser: Sie ignorieren „Mindesthaltbarkeit“ und prüfen, was noch gut ist

Mindesthaltbarkeit und reale Haltbarkeit von Lebensmitteln sind zwei Paar Schuhe

VON CONSTANZE BROELEMANN

Nach Einschätzung der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfahlen landen in Deutschland jährlich rund elf Millionen Tonnen an Lebensmitteln in unseren Mülltonnen. Würde man sich die Mühe machen und diese Menge auf Sattelschlepper laden, ergäbe das eine Strecke an Lastwagen, die von Düsseldorf nach Lissabon und wieder zurück reichte. Angesichts der Tatsache, dass es auf der Welt 925 Millionen hungernde Menschen gibt, ist das eine Verschwendung von Ressourcen, die nachdenklich machen sollte.

Omas alte Weisheit „Iss dein Brötchen auf, woanders hungern Menschen“ ist zwar pädagogisch wertvoll, in letzter Konsequenz allerdings nicht zielführend. „So eng ist der Zusammenhang nicht“, sagt Carolin Callenius, Referentin für Recht auf Nahrung bei der Organisation Brot für die Welt. Sie und Brot für die Welt vertreten den Standpunkt, dass „Nahrungsmittel vorrangig für die direkte Versorgung der Menschen anzubauen sind“. Nach Auffassung von Brot für die Welt liegt ein Kernproblem der Nahrungsmittelverschwendung darin, dass Menschen in den sogenannten Industrienationen, also auch in Deutschland, die Wertschätzung für Lebensmittel abhandengekommen sei. „Billig und schnell“ ist die Maxime, mit der sich der Durschnittsdeutsche an die Supermarktregale und – wenn es dazu überhaupt kommt – an den Kochtopf begibt. Nur noch 14 Prozent des Nettoeinkommens wurden 2009 in Deutschland für Lebensmittel ausgegeben – inklusive Alkohol, Tabak und anderen Genussmitteln. Zum Vergleich: 1950 waren es noch 44 Prozent. Bei den Franzosen oder Österreichern hingegen liegt der Anteil ihres Einkommens, den sie für Milch, Käse und Co. ausgeben, noch heute bei über 20 Prozent.

Woran liegt es, dass die Deutschen so viele Lebensmittel wortwörtlich in die Tonne treten? Laut der Kampagne des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, „Zu gut für die Tonne“, wird jedes achte Lebensmittel, das Kunden einkaufen, weggeworfen. Vieles davon sogar originalverpackt und ungenutzt. Das Problem sei, dass zu viel eingekauft wird, die Lebensmittel darüber hinaus falsch gelagert und die Reste nicht weiterverwertet werden.

Eine Bewegung, die sich die Verbreitung einer „lebendigen und nachhaltigen Esskultur“ auf die Fahnen geschrieben hat, ist Slow Food. In Aktionen wie „Schnippeldisco“ treffen sich Menschen und schnippeln, kochen und essen gemeinsam sogenanntes Ausschussgemüse. „Ausschussgemüse“ ist der Fachbegriff für Gurken, Tomaten und Kartoffeln, die nicht die Maße und das Aussehen haben, um es in die Regale des Supermarktes zu schaffen. Anke Klitzig, Pressereferentin von Slow Food Deutschland, empfiehlt Konsumenten, direkt beim Bauern oder im kleinen Einzelhandel einzukaufen: „Dort sind die Margen nicht so hoch, es wird nicht so viel weggeschmissen, und man kann auch mal über einen Apfel mit einer braunen Stelle verhandeln, der ansonsten auf dem Müll landen würde.“

Vom so bezeichneten Müll, richtiger Überschussangebot aus dem Supermarkt, ernähren sich „Freeganer“. Das sind Menschen, die sich nicht so sehr aus finanziellen als vielmehr aus rein ethischen Gründen aus der Mülltonne ernähren. Sie wollen ein Zeichen gegen die Lebensmittelverschwendung setzen. In der Fachsprache nennen sich ihre meist nächtlichen Streifzüge durch Mülltonnen „containern“ oder „dumpstern“. Allerdings ist dieses Hobby in Deutschland, anders als in den USA beispielsweise, illegal. Denn der „Müll“ ist Eigentum des Supermarktes. Eine legale Alternative, Joghurts und Nudeln, deren Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten ist, weiterzugeben, bietet die Tafelbewegung. In Kooperationen mit regionalen Supermarktketten werden hier Lebensmittel, die etwa zu viel geordert wurden, an Transferleistungsempfänger abgegeben. „Das sind ja keine vergammelten Waren, die wir verteilen“, sagt Frauke Stürenburg, Mitarbeiterin des Bundesverbandes Deutsche Tafeln e.V., „Mindesthaltbarkeit und die reale Haltbarkeit von Lebensmitteln sind eben zwei Paar Schuhe“, sagt sie.

www.containern.de www.tafel.de www.slowfood.de www.zugutfuerdietonne.de