Eine Scheibe Hund

Kein kleiner Ausschnitt Wirklichkeit: Sechs junge Dichter lasen in der Literaturwerkstatt aus ihren Debüts

„Das ist eine Lyrikveranstaltung! Was ist denn los?“, raunt einer der Organisatoren ungläubig – viel mehr Menschen als erwartet haben den Weg in die Literaturwerkstatt gefunden, in der sechs junge DichterInnen aus ihren Debüts lesen. Es moderiert Patrick Hutsch, Herausgeber der Literaturzeitschrift Edit. „Lyrik hat in Deutschland nach wie vor einen schwierigen Stand“, sagt er, es gebe jedoch in letzter Zeit und vor allem in Berlin eine starke Vernetzung unter jungen Dichtern – was nichts daran ändere, dass „Lyrik immer noch selten verfilmt“ werde. Man lacht.

Dann hat jeder Dichter zehn Minuten Vortragszeit – knapp. Das stilistische Spektrum reicht von Naturlyrik über Gesprächsfetzen-Montagen bis hin zu Variationen alter Klagelieder. Meist geht es um die gar nicht so kleinen Dinge des Lebens: wie sich die eigene Wahrnehmung mit der Zeit verändert und damit auch die Erinnerungen – so Florian Voß’ „Gedächtnisprärie“. Andere Gedichte erzählen von der „Verschiebung des Mondes“ oder von den Problemen beim Briefschreiben, wenn einem plötzlich die Diskrepanz zwischen Gemeintem und Gesagtem bewusst wird.

Dieser Abend hat – obwohl die Autoren durchschnittlich vielleicht 27 sind – wenig mit einer der so beliebten Lesebühnen-Veranstaltungen zu tun. Dafür nehmen die Dichter – die Herren tragen Schwarz, die Damen das Haar tiefschwarz gefärbt – ihr eigenes Schaffen zu ernst und tragen mit gesetzter Ruhe ihre Texte vor. Der Schweizer Jürg Halter, der herrlich arrogant „nicht auf Szenenapplaus angewiesen“ ist, neigt als Einziger zu performativen Einlagen, er inszeniert seine Texte – etwa als er über die Bühne stolziert und dem verblüfften Moderator den Titel eines Gedichts ins Ohr haucht. „Ich werde die Sprache dressurreiten“, heißt es in einem seiner Gedichte – das trifft.

Norbert Langes lakonischer Vortrag ist dann ein schöner Kontrast zu Halters beschwörendem Singsang. In „Nach einem Motiv bei Akira Kurosawa“ heißt es: „Der Hund war auf der/Stelle tot, sein Körper rund/und leuchtend roh wie/ein Thunfisch den der Zug durch-/schnitt zum Sashami-Essen.“ Dem Leipziger geht es in seinen Texten um die Unmöglichkeit, jemals mehr als nur einen kleinen Ausschnitt der Wirklichkeit wahrnehmen zu können – manchmal eben nur eine Scheibe Hund. Der Einblick in die deutschsprachige Lyrik-Wirklichkeit, den dieser Abend bot, sah nach mehr als nur ein kleiner Ausschnitt aus.

ANDREAS RESCH