Der Bauernfänger

VON HANNES KOCH

An jenem Donnerstag im November führen Horst Seehofer, Fraktionsvize der Union im Bundestag, und Edmund Stoiber, Ministerpräsident von Bayern, ein sehr langes Gespräch. Es ist eher eine Verhandlung, sie dauert drei Stunden und endet mit einem exakten Ergebnis: Seehofer stimmt zu, dass er in den kommenden Tagen den Mund hält – zumindest in der Öffentlichkeit. Dafür darf er Fraktionsvize bleiben. Als Seehofer schon im Wagen sitzt, wird er noch einmal in die Münchner Staatskanzlei zurückgerufen. Man fixiert den Kompromiss auch noch schriftlich.

Am Abend wundert sich CSU-Chef Stoiber sehr, als er seinen Parteikollegen in den „Tagesthemen“ sieht. Im Rollkragenpullover steht Seehofer vor seinem Haus in Ingolstadt und begründet den Reportern, warum er die Kopfpauschale in der Krankenversicherung, die die Union fordert, für unsozial hält. Genau das hat Stoiber vermeiden wollen, und genau das hat Seehofer wenige Stunden zuvor ja zugesichert.

Am Montag darauf war Seehofer nicht mehr Fraktionsvize der Union. Er war eine politische Leiche, mausetot. Auf die Zukunft des jetzigen Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz gab damals im November 2004 niemand mehr etwas.

Für Eskapaden wie den „Tagesthemen“-Auftritt hat man Horst Seehofer schon viele Namen gegeben. „Unguided missile“ zum Beispiel, was so viel heißt wie „ungelenkte Rakete“, auch „Selbstmordattentäter“. Denn indem er argumentativ wild um sich schießt und zur gleichen Zeit mindestens zwei Parteivorsitzende und drei Ministerkollegen der eigenen Partei schärfstens kritisiert, provoziert Seehofer immer wieder heftige Reaktionen. Dann erst scheint er zufrieden zu sein, gibt Ruhe und ist in der Regel für einige Tage oder Wochen nicht mehr zu sehen.

Horst Seehofer betrachtet Krawall als seine Pflicht. Er glaubt, in höherem Interesse zu handeln. Nachdem Heiner Geißler und Norbert Blüm von der politischen Bühne abgetreten sind, sieht er sich als der Robin Hood der Union, der einzige verbliebene Sozialpolitiker, der Beschützer der kleinen Leute. „Ich habe Loyalität in der Politik immer gedrittelt“, sagte Seehofer einmal dem Stern, „die Loyalität zur Bevölkerung ist die wichtigste“. Damit meint er die Landwirte seines oberbayerischen Wahlkreises um Gerolfing, die Arbeiter von Audi in Ingolstadt und Leute wie seinen Vater, den Lastwagenfahrer. An zweiter Stelle komme die Loyalität zu seiner „politischen Grundüberzeugung“. Am Schluss die zur Partei.

Am Kleinen-Leute-Credo ließ sich nicht nur trefflich arbeiten als Bundesgesundheitsminister der Kohl-Regierung und als Sozialexperte während des rot-grünen Interregnums. Auch das Agrar- und Verbraucherministerium bietet dafür eine hervorragende Ausgangsposition. Nachdem Edmund Stoiber ihn doch wieder in Berlin ins Bundeskabinett gehievt hat, amtiert Seehofer nun als Nachfolger der Grünen Renate Künast. Wenn der CSU-Politiker deren bisherige Politik auch nicht ins genaue Gegenteil verkehrt, so setzt er sich doch deutlich von ihr ab.

Die Grüne schätzte hochqualitative, Know-how-intensive und teure Bioprodukte. Das war quasi die Elitestrategie für die urbane Mittelschicht und den globalen Markt. Deutschland produziert die besten Autos, Maschinen und Eier weltweit. Freilich gibt es da auch noch die Landwirte, immerhin die Mehrheit aller Bauern, die konventionelle Nahrungsmittel herstellen. Und auch die Konsumenten, die sich vornehmlich nur solche Lebensmittel leisten können oder wollen: das Schnitzel für 2,50 Euro pro Kilo, das Brot für 99 Cent. An die denkt eher Horst Seehofer. Denn die kennt er von zu Hause.

Bei der ersten Personalversammlung im Ministerium nach dem Regierungswechsel brachte Seehofers Staatssekretär Gert Lindemann die neue Politik auf folgenden Nenner: „Weniger Lifestyle, mehr Landwirtschaft“.

Zunächst geht es dabei um die weichen Politikfaktoren. Während Künast das „Ministerium für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft“ führte, rückte unter Seehofer „Landwirtschaft“ zurück an die erste Stelle des Namens. Noch vor seiner Vereidigung als Minister beraumte er eine Beratung zur Zuckerproduktion an und lud dazu die Rübenbauern, den Bauernverband und auch die Zuckerindustrie ein. Obwohl tatsächlich für die Lobbyisten wenig herauskam – über so viel Aufmerksamkeit freuten sich die traditionellen Verbandsfunktionäre dennoch sehr. „Das hätte es bei Künast nicht gegeben“, wurde Seehofer gelobt.

Doch auch erste reale Unterschiede zwischen grüner und christsozialer Landwirtschaftspolitik sind nicht zu übersehen. Künast wollte die Aussaat von gentechnisch verändertem Raps und anderen manipulierten Pflanzen im Prinzip unterbinden und lastete deshalb den Gentech-Bauern die individuelle Haftung auf, falls ihre bösen Hightech-Pollen die guten Felder der Biobauern nebenan verunreinigen sollten. Staatssekretär Lindemann sagt nun, man strebe einen Fonds an, mit dem die Saatgutindustrie für eventuelle Schäden aufkommen könnte. Das würde dem Anbau genveränderter Pflanzen hierzulande im wahrsten Sinne den Boden bereiten.

Während Künast die Legebatterien für Hühner zum Beginn des Jahres 2007 abschaffen wollte, könnte es unter Seehofer zu längeren Übergangsfristen kommen. Und auch das von ihm geplante Gesetz zur Verbraucherinformation ist längst nicht so konsequent wie das seiner grünen Vorgängerin. Weil Industrieunternehmen weiterhin wichtige Angaben über die chemische Zusammensetzung ihrer Produkte vor den Konsumenten geheim halten können, schimpft die grüne Politikerin Bärbel Höhn über Seehofers „Schmalspurgesetz“.

Alles, was Agrarminister Horst Seehofer von nun an tut, wird er darzustellen versuchen als das wohlverstandene Interesse der Bevölkerung. Diesen Ton beherrscht er. Seine Eltern waren mit Wohlstand nicht gesegnet. Als er Anfang der 1970er-Jahre mit einigen Weggefährten der CSU beitrat, brach die junge Truppe die alte bayrische Honoratiorenpartei auf. „Er repräsentierte in idealer Weise die Zielgruppe der Arbeiter und einfachen Leute, um die die CSU erweitert werden sollte“, sagt ein Vertrauter von damals.

Sozialpolitik bedeutet für Seehofer Herkunft, Überzeugung und Masche zugleich. Durch alle Wirrnisse hindurch pflegt er sein Image. Seiner Klientel kann er fast alles verkaufen. Im Bundestagswahlkampf 2005 feierte Seehofer Erfolge mit einer interessanten Erklärung der geplanten Mehrwertsteuererhöhung.

Die Minen in den Sälen hellten sich immer dann auf, wenn der geübte Volksredner erläuterte, dass die Mehrwertsteuer für Miete und Grundnahrungsmittel ja gar nicht angehoben werden solle – sondern nur für die Artikel des gehobenen Bedarfs. Nicht selten verkommen seine Argumente zur Bauernfängerei. Mühelos gelingt es ihm, einerseits gegen die Mehrbelastungen der Patienten zu wettern, gleichzeitig aber das Einfrieren der Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung zu propagieren – was für die Beschäftigten durchaus teuer wird.

Dass Seehofer zwischen scheinbar unvereinbaren Gegensätzen pendelt – heute dies fordert, um im nächsten Jahr jenes zu praktizieren –, hat ihm den Ruf der Unberechenbarkeit eingetragen. Ein Buch, in dem dieser Charakterzug eine Rolle spielt, hat der Minister gerne und oft verschenkt: „Joseph Fouché“ von Stefan Zweig. Als einen Menschen von „bewundernswert beharrlicher Charakterlosigkeit“ beschreibt Zweig den Politiker der französischen Revolutionszeit. Indem er seine Position nach Bedarf wendet, gelingt es Fouché, nacheinander Priester, bürgerlicher Revolutionär, Kommunist, Massenmörder, Minister und Herzog zu werden. Er überlebt Robbespiere und Napoleon, um schließlich dem König zu dienen. Mehrmals wird er fast im Karren zur Guillotine gefahren, ist ganz unten und kehrt dann doch nach ganz oben zurück.

Neben Angela Merkel und Wolfgang Schäuble ist Horst Seehofer der dritte Übriggebliebene aus den Bundeskabinetten der 1990er-Jahren. Seine Zeit als Gesundheitsminister liegt Lichtjahre zurück, er hat Kohl hinter sich gelassen, die rot-grüne Ära überlebt, war tot, ist wieder auferstanden. Und das Amt des Bundesministers wird vermutlich nicht die letzte herausgehobene Position sein, die der 56-Jährige bekleidet.

Im Jahr 2008 stehen in Bayern Landtagswahlen an. Nach seinem ängstlichen Rückzug aus Berlin ist Edmund Stoiber ein schwacher Ministerpräsident. Er kämpft um den selbst bestimmten Ausstieg – was nur möglich wäre, wenn er die nächste Wahl noch einmal mit mehr als 50 Prozent gewönne. Vielleicht braucht der „Edi“ den „Horsti“ genau dafür. Dessen Popularität in der Bevölkerung ist bekannt. Bei der Bundestagswahl verbuchte Seehofer eines der besten Ergebnisse aller bayerischen Wahlkreise. Wenn Stoiber Seehofer seinen CSU-Vorsitz antrüge, um selbst wenigstens noch einmal Ministerpräsident zu werden, „würde er das auf jeden Fall machen“, sagen Vertraute des Ministers.

Diesen Abschluss seiner eigenen Karriere freilich müsste Seehofer sich erst noch verdienen. Auf der Straße mag er beliebt sein, doch unter den Funktionären der CDU und CSU gibt es manche, die ihn ablehnen, auch hassen. Mit seiner ewigen Kritik an den eigenen Leuten, seinen Alleingängen, seinem Lob für die rot-grüne Bürgerversicherung hat er sich viele Sympathien verscherzt. Nun sind einige Bittgänge in die Fraktionen fällig. Eine solide, konservative Landwirtschaftspolitik wird auch dabei helfen. Eine Vorliebe für Bio und Öko wohl eher nicht.