Politische Fäulnis in einem kopflosen Land

NIGERIA Islamisten und Niger-Delta-Rebellen haben wieder Auftrieb, weil die politische Elite die durch die Dauerabwesenheit des kranken Präsidenten Yar’Adua herbeigeführte Staatskrise nicht beenden will

„Al-Qaida im Maghreb“ hat Nigerias Muslimen Hilfe und Waffen angeboten

AUS ABUJA MARC ENGELHARDT

Im Salamander-Café, Treffpunkt der Künstler und Alternativen in der nigerianischen Hauptstadt Abuja, hat jemand eine Tafel mit der Zahl 71 aufgestellt. Das ist die Zahl der Tage, die Nigerias Präsident Umaru Yar’Adua jetzt nicht mehr im Land ist, weil er in Saudi-Arabien eine Herzbeutelentzündung behandeln lässt. Die meisten, die an der Tafel vorbeigehen, lachen; andere runzeln die Stirn. Nur egal ist das niemandem. Denn was Ende November als eine Krankenreise Yar’Aduas begann, hat sich zur größten Staatskrise Nigerias seit Ende der Militärdiktatur von Sani Abacha 1999 ausgeweitet.

„Die Alten sollen endlich abtreten, wir brauchen frisches Blut“, sagt Emmanuel, einer der Gäste im Café. Mahmood wünscht sich: „Irgendjemand soll jetzt endlich mal übernehmen. Wer, ist mir egal.“ Kaum ein Nigerianer glaubt, dass Yar’Adua noch in der Lage ist, das Land zu führen. Dennoch will er die Macht immer noch nicht förmlich an seinen Vize Goodluck Jonathan übergeben. Der führt inzwischen die Regierungsgeschäfte in der Praxis, Bürger protestieren gegen die unklare Lage, Gerichte fällen widersprüchliche Urteile, der Senat hat Yar’Adua zur Vorlage einer schriftlichen Bitte um Entbindung von seinen Amtsgeschäften gebeten. Nur das Kabinett hat dem Staatschef das Vertrauen ausgesprochen. Ein Ende der Blockade ist nicht in Sicht.

Beobachter in Abuja machen dafür zwei Gründe aus: die Sicherung der Pfründe bis zu den Wahlen 2011 – und den Einfluss der politischen Elite aus dem muslimisch geprägten Norden Nigerias, die mit Jonathan nicht einem Christen aus dem Süden Einfluss in der Frage geben will, wer Yar’Adua nachfolgt.

„Yar’Aduas Unterstützer wollen vor allem sich selber helfen“, bilanziert Auwal Mussa Ibrahim, Direktor des zivilgesellschaftlichen Lobbyverbandes Cislac in Abuja. „Es gibt eine Kabale rund um den Präsidenten, die sich um das Volk einen Dreck schert.“ Ibrahim kritisiert vor allem, dass seit Yar’Aduas Ausreise im November 2009 kein einziges politisches Projekt vorangekommen ist. Es herrscht Stillstand.

Dieser Stillstand kommt Nigeria teuer zu stehen. Den von Yar’Adua gegen große Widerstände beschlossenen Waffenstillstand mit den Rebellen in den Ölgebieten des Nigerdeltas, kombiniert mit einer Amnestie, hat die militante „Bewegung für die Emanzipation des Nigerdeltas“ (Mend) bereits aufgekündigt. Die Regierung hatte zugesagte Verhandlungen ohne Angabe von Gründen platzen lassen, vereinbarte Zahlungen an die Exrebellen blieben aus.

Erstmals hat Mend diese Woche angekündigt, auch außerhalb der Ölregionen Anschläge zu verüben, um der Forderung nach Beteiligung der lokalen Bevölkerung an den Milliardengewinnen aus den Ölexporten Nachdruck zu verleihen. Shell musste schon Stunden nach der Mend-Erklärung die Ölförderung drosseln, nachdem eine Pipeline beschädigt wurde.

„Irgendjemand soll jetzt endlich mal übernehmen. Wer, ist mir egal“

Ein zweiter Brandherd schwelt im Zentrum Nigerias, wo vor zwei Wochen mehr als 550 Menschen bei Unruhen zwischen muslimischen und christlichen Milizen ums Leben gekommen waren. Am Montag meldete sich „al-Qaida im islamischen Maghreb“ zu Wort: Man sei bereit, die nigerianischen Brüder und Schwester zu trainieren und mit Waffen auszurüsten.

Diplomaten in Abuja halten das Schreiben für authentisch. Und auch der Chef der islamischen Ansarudeen-Bewegung, Abdulrahman Ahmad, der eine Al-Qaida-Präsenz im Norden Nigerias zurückweist, warnt: „Unsere Sicherheitskräfte erledigen nicht ihren Job, Leben und Besitz der Nigerianer zu schützen.“

Solches Engagement ist nicht in Sicht, auch nicht bei Alltagsproblemen. Nigerianer ärgern sich in diesen Tagen etwa darüber, dass sie wieder einmal an den staatlichen Tankstellen anstehen müssen, um Benzin zu bekommen. „Wir sind Afrikas größter Ölproduzent und haben kein Benzin“, ereifert sich Taxiunternehmer Gideon Bello. „Seit Abachas Zeiten habe ich so etwas nicht mehr gesehen.“