Der Schnee von gestern

SCHLAGLOCH VON KERSTIN DECKER Zwanzig Jahre Bischofferode: immer noch im kollektiven Gedächtnis Ost

■ ist promovierte Philosophin und freie Autorin. Zuletzt: „Richard Wagner. Mit den Augen seiner Hunde betrachtet“ (Berlin 2013, 288 S., 25 Euro). Zuvor: „Nietzsche und Wagner. Geschichte einer Hassliebe“ (Berlin 2012).

Nichts ist unwirklicher als der Schnee von gestern, zumal im Mai, zumal nach diesem Winter. Es sei denn, man blickt wie Bazon Brock von der Berliner Denkerei auf diesen weißen Inbegriff der Vergänglichkeit und erkennt im Schnee von gestern die Lawine von morgen.

Aber selbst wenn nicht: Bemerkenswert ist es schon, dass der Name Bischofferode immer noch verstanden wird. Bischofferode: Das ist der Schnee von vor zwanzig Jahren, aber er bringt weiter Ausstellungen, Erzählungen, Theaterstücke hervor. Der Ort, dessen Namen in der DDR kaum einer kannte, ist tief eingegraben ins kollektive Gedächtnis Ost.

Genau zu Ostern, am 7. April 1993, blieben die Bergleute aus Bischofferode im Eichsfeld im Schacht. Sie kamen einfach nicht wieder hoch. Dann wurde das Kali-Werk „Thomas Müntzer“ auch über Tage besetzt.

Der neue Sinn des alten Worts

Der Name für das, was sie da taten, war ihnen immer noch fremd: „Arbeitskampf“. Das Wort hatte in ihrem bisherigen Leben keinen Sinn, also existierte es nicht. Die Bergleute blieben Karfreitag und Ostersonntag, sie blieben die kommenden Wochen und Monate, bis zum Jahresende. Im Juli begannen sie den Hungerstreik. Für ihr Werk.

Für ihr Werk?

Es war, als hätten sie mit einem Mal den Sinn des Wortes „Volkseigentum“ verstanden. Oder bekam es erst jetzt seinen Sinn? Es gab wenig Worte, die in der DDR solchen Überdruss erregt hatten wie dieses, höchstens noch das Wort „Sozialismus“. Oder das Wort „Arbeiterklasse“.

Diese Begriffe waren, so die Gewissheit des Volkes, vollständig leer. Sie besaßen nichts, was ihnen in der Wirklichkeit entsprach, wenigstens nichts Fassbares. Und jedes Volk liebt doch das Fassbare. Darum wiederholten die Herrschenden diese Worte so oft, um sie wirklicher zu machen. Man nennt das, was im Erfolgsfall dabei herauskommt, auch: den Glauben. Aber als Missionar war die Partei- und Staatsführung der DDR einer der größten Versager der Geschichte. Sie herrschte über ein Volk von Ungläubigen.

Zuletzt glaubte es nicht einmal, dass es den Kapitalismus wirklich gibt. Schon weil so vor ihm gewarnt wurde. Das Volk glaubte an den Westen, nicht an den Kapitalismus. Das war etwas grundsätzlich Verschiedenes.

Die Eichsfelder waren ein Sonderfall. Denn sie glaubten außer an den Westen auch noch an Gott. Das unterschied sie vom Rest des Landes, welches die Eichsfelder immer ein wenig wie ein Kuriosum besah. Auch dass sie für den Erhalt ihres Kali-Werkes bis nach Rom zum Papst pilgerten, lässt sich nur so erklären. Was die Treuhand und die westdeutsche BASF-Tochter Kali+Salz wollten, mussten Gott und sein Stellvertreter noch lange nicht gutheißen! Aber es zeigte sich, dass weder der HErr noch der Papst eine ausgeprägte Meinung zur Kali-Förderung im Osten besaßen.

Das Salz auf unserer Haut

Dabei hatte die Kirche schon immer ein exklusives Verhältnis zum Salz: „Ihr seid das Salz der Erde!“, spricht der HErr zu seinen Jüngern. Es ist der Zentralsatz im Zentraltext des Neuen Testaments. Und das Bischofferoder Salz war von ganz besonderer Reinheit, oder, marktwirtschaftlich gesprochen: Es war konkurrenzlos. Und es lag noch genug im Berg für die nächsten 47 Jahre, die Auftragsbücher waren gut gefüllt, die Belegschaft von 2.600 Bergleuten auf 700 geschrumpft.

Die DDR hatte Kalisalz unter dem Weltmarktpreis angeboten, wegen der Devisen. Sie hatte sich wie ein Drittwelt-Land durchgeschlagen, gegen Billiglöhne für C&A genäht, Westmüll für Westmark bei sich eingelagert und Westmedikamente getestet.

Aber jetzt? Als die mächtige Kali+Salz AG nach 1990 ihre Salzberge zählte, waren es plötzlich zu viele. Vielleicht sollte man von stationärer Zuwanderung sprechen. Es ist eine Illusion zu glauben, der Abbau Ost nach 1990 hätte seinen Grund allein in der Schrottreife des Vorfindlichen gehabt. Handelte es sich bei den Ostgruben um überaus rentable unterirdische Immobilien? Wie viel Sondermüll da reinpassen würde! Damit kein Fördergerät abgebaut und kein Testmüll eingeliefert werden konnte, besetzten die Männer und Frauen sicherheitshalber die Grube. Und arbeiteten einfach weiter. Von solchen Werktätigen hatte die DDR geträumt. Die aus freien Stücken blieben, aus eigenem Entschluss arbeiteten, weil sie sagten: Dieser Betrieb gehört uns! Sie machten den Marx’schen Eigentumsbegriff wahr. Eigentum ist nicht Besitz, sondern reale Aneignung.

Natürlich gab es auch recht profane Gründe: Der Kalibergbau ernährte die Region. Hier war sonst nicht viel, außer blühenden Landschaften. Natürlich hätten die Eichsfelder gleich misstrauisch werden können, als ihnen der Kanzler noch mehr blühende Landschaften versprach, aber in ihrer Einheitsfreude hatten auch die Eichsfelder 1990 zu 90 Prozent CDU gewählt. Sie alle hatten den Westen gewählt, nicht den Kapitalismus.

Das Bischofferoder Salz war von ganz besonderer Reinheit, oder, marktwirtschaftlich gesprochen: Es war konkurrenzlos

Der Dichter Volker Braun hat aus dem Fall Bischofferode eine Erzählung gemacht, hat ihn geweitet zum Aufstand des Ostens: „Die hellen Haufen“. Vielleicht gibt es keine zärtlichere Umschreibung für das Volk. Haufen sind immer bedrohlich, aber hier muss es sich gewissermaßen um eine Zusammenrottung im Zustand der Erleuchtung handeln, also um einen Pfingsthaufen.

Der denkbare Aufstand

„Der Aufstand, von dem hier berichtet wird, hat nicht stattgefunden … Wenn er seine Wahrheit hat, so nicht, weil er gewesen wäre, sondern weil er denkbar ist.“ Man glaube, die Geschichte zu kennen, aber sie trüge mehr in sich, als sich ereigne, meint Braun. Vielleicht hätte die DDR so zu Ende gehen sollen.

Mag sein, dass das Volkseigentum eine Schimäre war, eine ebenso plausible, ja ersehnte wie unpraktikable, totgeborene Utopie. Letztlich Staatseigentum mit dem Staat als Gesamtkapitalisten.

Aber ein paar konkrete Bestimmungen hatte es: Es durfte nicht verkauft, nicht beliehen, nicht veräußert werden. Denn es gehörte dem Volk. So konnte das Volkseigentum erst nach dem Ende des Landes, das es erfand, real werden. Beinahe. Und dieses Jahr ist sein Gedenkjahr.