DIE SOZIALISTIN BACHELET WIRD DIE ERSTE PRÄSIDENTIN CHILES
: Ein Kontinent rückt nach links

Lateinamerika wählt links – dieser Trend hat sich mit dem Wahlsieg der sozialistischen Kandidatin Michelle Bachelet zur ersten Präsidentin Chiles am Wochenende bestätigt. Zwar folgt in Chile eine Sozialistin einem Sozialisten. Dennoch war Bachelets Wahlkampf wesentlich stärker von der Idee des sozialen Ausgleichs bestimmt als die bisherige Regierungspolitik ihres Vorgängers Ricardo Lagos.

Überall in Lateinamerika geht es um die Frage, wer am Reichtum eines Landes teilhaben darf und welche Rolle der Staat dabei spielen soll, diese Teilhabe zu organisieren. Der Wunsch der WählerInnen zeigt: eine große. Die linken Wahlerfolge in Lateinamerika sind eine demokratische Absage der Mehrheit der Bevölkerung an jene ökonomischen Konzepte, die in den vergangenen gut 25 Jahren an den Bevölkerungen ausprobiert wurden.

Bei allen historischen, ökonomischen, sozialen und ethnischen Unterschieden eint die linken Regierungen doch ihre Ablehnung dessen, was sie als Neoliberalismus begreifen. Für Lateinamerika hieß das: nationale Regierungen mit weitgehender Nähe oder gar Personalidentität zu den wirtschaftlichen Eliten; Abbau staatlicher Leistungen; Privatisierung der Quellen nationalen Reichtums, oftmals zugunsten internationaler Investoren; weitgehende Öffnung der eigenen Märkte für ausländische Produkte, und das bei einer fortbestehenden Abschottung etwa der EU-Agrarmärkte.

Die Redemokratisierung Lateinamerikas nach dem Ende der Militärdiktaturen ging fast überall einher mit einer krisenhaften Zuspitzung der wirtschaftlichen Lage. In den Neunzigerjahren waren es in vielen Ländern – größtenteils rechte – Populisten, die von der Unfähigkeit des politischen Systems profitierten, Verbesserungen für die Bevölkerung zu erreichen: Eintagsfliegen wie Fernando Collor de Mello in Brasilien, korrupte Neoliberale wie Carlos Menem in Argentinien und autokratische Führer wie Alberto Fujimori in Peru gewannen Wahlen. Stets unterstützt durch die alten Oligarchien wurden so Regierungen gebildet, die neoliberale Konzepte umsetzten, ohne dabei Modernisierungserfolge zu erzielen. In Bolivien wurde gar der ehemalige Diktator Hugo Banzer erneut zum Präsidenten gewählt, während in Ecuador mit Abdalá Bucaram jemand ins Präsidentenamt einzog, den die Bevölkerung später als offensichtlich unzurechnungsfähig absetzte.

Die sozialen Gegensätze in Lateinamerika haben sich seither weiter verschärft – noch immer ist es der Kontinent mit den krassesten Gegensätzen zwischen Arm und Reich. Die Linke, vielerorts während der Militärdiktaturen ins Exil getrieben oder durch politischen Mord ihrer Führungsfiguren beraubt, brauchte lange, um sich neu zu organisieren und sich von den gescheiterten Träumen der Siebzigerjahre zu verabschieden.

Es sind neue Linke – teilweise, wie im Fall Bolivien, mit völlig neuen Protagonisten –, die heute die Wahlen gewinnen. Auf ihnen lastet eine ungeheure Verantwortung, wird doch der Machtantritt des neuen Führungspersonals fast überall stets mit dem Attribut „historisch“ belegt. Wollen sie nicht binnen kürzester Zeit mit der Enttäuschung ihrer eigenen Basis zu kämpfen haben – eine Enttäuschung, die das Vertrauen in die Demokratie insgesamt erschüttern könnte –, müssen sie in relativ kurzer Zeit soziale Erfolge vorweisen. Um dafür aber ausreichend Spielraum zu haben, müssen sie international – etwa bei Verhandlungen mit den Gläubigern – erfolgreich agieren, das nationale Kapital nicht aus dem Land treiben und den staatlichen Institutionen zu mehr Effizienz verhelfen.

Dabei ist die ökonomische Ausgangslage der Länder doch denkbar unterschiedlich: Chile etwa, oft als „Musterland“ tituliert, hat mit sechs Prozent im Jahr 2005 ein hohes Wirtschaftswachstum vorzuweisen. Der Preis fürs chilenisches Kupfer steht – vor allem durch Chinas Hunger nach Rohstoffen – auf Rekordhöhe, und auch in puncto Bildungsstand, Internetzugang und Konsum braucht das Land den internationalen Vergleich nicht zu fürchten. Doch auch das ist Chile: Ein Fünftel der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze, während den oberen zwanzig Prozent der Bevölkerung rund zwei Drittel des nationalen Reichtums zur Verfügung stehen. Bolivien, Uruguay, Brasilien und Argentinien haben anders gelagerte Probleme.

Die große Frage der kommenden Jahre wird sein, ob die linken Regierungen Lateinamerikas es schaffen, gemeinsam zu agieren, nationale Rivalitäten und ökonomische Interessengegensätze zu überbrücken. Am konsequentesten schlägt derzeit Venezuelas Präsident Hugo Chávez so eine Kooperation vor. Ob ausgerechnet er mit seiner Freude an der politischen Polarisierung dafür der geeignete ist, bleibt zweifelhaft.

Würde Michelle Bachelet ihr Land aus der bisherigen Rolle als Fürsprecher bilateraler Freihandelsabkommen zugunsten einer lateinamerikanischen Allianz herausführen, könnte ihre Wahl für die ganze Region eine Zäsur bedeuten. Nur: Es deutet wenig darauf hin. BERND PICKERT