„Europa ist eine Einladung“

Das Schülerinterview: EU-Bildungskommissar Ján Figel will mehr Austauschprogramme für Lehrende und Lernende

taz: Herr Figel, wir treffen Sie hier in Linz auf der so genannten E-Twinning-Konferenz. Was machen diese elektronischen Zwillinge?

Ján Figel: Ich fördere als Bildungskommissar der EU mit 44 Millionen Euro eine Internetplattform, auf der sich Europas Schulen elektronische Zwillinge suchen können. Schüler verschiedener Länder chatten, mailen oder arbeiten via Internet an gemeinsamen Themen – grenzüberschreitend.

Warum gibt es dann hier keine Schüler?

Sie sind doch da …

aber ich bin die einzige. Wo sind all die anderen? Warum sind sie nicht eingeladen?

Die besten E-Twinning-Projekte, die wir auszeichnen, werden mit bis zu 20 Teilnehmern auf der Insel Lanzarote zu einem gemeinsamen Aufenthalt erwartet.

Viele der Lehrer, die mit der Plattform E-Twinning arbeiten, wünschen sich, dass sich die Schüler auch persönlich treffen können.

Ich stimme zu, absolut. Nur brauchten wir bei E-Twinning zunächst das Interesse der Schulen. Nach einem Jahr Anlaufphase registrieren wir nun 11.528 Schulen, die sich angemeldet haben. Mobilität ist immer auch eine Frage des Geldes. Es bedarf materieller Unterstützung von uns, der Kommission, wie auch von den Mitgliedsländern. Als Kommissar kann ich Ihnen versprechen, dass wir den höchsten Zuwachs an Mitteln für Bildung, den es bisher gab, beantragt haben. Uns schwebt so etwas vor wie das Studenten-Austauschprogramm Erasmus. 1,2 Millionen europäischer Studierender ziehen damit durch Europa.

Wie viel Prozent Anteil für Bildung am EU-Budget wäre Ihr Traum?

Bildung ist Aufgabe der Mitgliedstaaten. Die EU will und kann nicht die Kompetenzen ihrer Mitgliedstaaten ersetzen, sondern sie nur unterstützen und ergänzen. Ich finde aber, dass die wissensbasierte europäische Gesellschaft in der Lage sein sollte, zwei Prozent des Sozialprodukts in höhere Bildung zu investieren – an öffentlichen Mitteln.

Wie viel sind es jetzt?

Wir liegen noch bei 1,3 Prozent. Es ist aber zu früh, um eine Antwort zu geben. Der Kompromiss des Europäischen Rats lag leider um 40 Prozent unter unserer Forderung. Das ist die jetzige Realität.

Würden Sie sich auf europäischer Ebene mehr Kompetenzen wünschen, um das Lissaboner Ziel zu erreichen, Europa bis 2010 zur größten wissensbasierten Volkswirtschaft der Welt zu machen?

Nein, wir sollten auf dem Feld der Bildung und Wissenschaft nicht zu viel harmonisieren oder nach Brüssel verschieben. Was wir wirklich brauchen, ist ein europäischer Hochschulraum, damit die Hochschulsysteme der Länder wettbewerbsfähiger werden – und offener für Studenten und Professoren.

Ist dieser Bologna-Prozess denn erfolgreich?

Wir sind mitten auf dem Weg. Nicht nur 25, nein 45 Staaten verwirklichen den Bologna-Prozess – das sind über die EU-Mitglieder hinaus Staaten aus dem Mittelmeerraum und Zentralasien. In der Berufsbildung haben wir ähnliche Pläne.

Denken Sie, dass europaweit die Klassengröße auf eine bestimmte Zahl begrenzt werden sollte – zum Beispiel 20 Schüler pro Klasse?

Es ist Sache der einzelnen Länder, wie sie ihre Schulen organisieren. Allerdings ist die Qualität von Bildung unser gemeinsames Interesse. Und es ist natürlich viel schwieriger, mit übermäßig großen Schülerzahlen in einer Klasse Erfolge zu erzielen. Das Ziel des Unterrichts ist es, den einzelnen Schüler möglichst individuell zu betreuen, zum Beispiel indem die Lehrer die Klasse immer neu gruppieren. Ich dränge darauf, durch größere Investitionen mehr Qualität zu erreichen.

Wir können in ganz Europa beobachten, dass die Chancen von Kindern armer Familien sich verschlechtern im Vergleich zu den sozial besser Gestellten. Was kann man dagegen tun?

Bildung darf nicht für Eliten oder für wenige reserviert werden. Sie muss für jeden zugänglich sein. Ich plädiere für mehr Investitionen.

Was heißt das?

Wenn wir mehr Stipendien vergeben, profitieren jene davon, die verletzbar sind, die weniger Geld haben. Diese Stipendien für Auslandsaufenthalte oder auch Sprachausbildungen können öffentlich sein, aber auch von privaten Stiftern kommen. Das ist das Fundament unserer Politik, die ich Mitgliedstaaten nur empfehlen kann.

Die Pisa-Studien belegen, dass einige Mitgliedstaaten rund 25 Prozent an Risikoschülern aus den Schulen entlassen. Was schlagen Sie Staaten wie Österreich oder Deutschland vor, wo es einen besonders engen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg gibt?

Alle OECD-Staaten haben sich bereit erklärt, ihre Bildungssysteme ständig zu beobachten und zu überprüfen. Das ist ein wichtiger Erfolg von Pisa. Vor zehn Jahren waren wir noch nicht so weit. Jedes Land sollte jetzt gut aufpassen, dass es mit zeitnahen und vernünftigen Reformen den Zugang für ausgeschlossene Schichten der Gesellschaft öffnet – auch über die Weiterbildung. Unter den 25 Mitgliedstaaten finden sie viele kreative Inspirationen. Es gibt ja europäische Länder, die bei den 15-jährigen die besten in der Welt sind, etwa in der Lesefähigkeit. Das ist geradezu eine Einladung, sich anregen zu lassen.

Glauben Sie, dass die Einführung von Studiengebühren geeignet ist, Bildungsbarrieren abzubauen und die Zahl der Studierenden zu erhöhen?

Auch hier ist die Kombination ganz verschiedener Modelle der Hochschulfinanzierung europäische Realität. Daran kann man sich orientieren. Aber, noch einmal, es ist bedeutsam, mehr Geld in Forschung und Bildung zu investieren – von Staats wegen oder von privater Seite aus.

Sind Sie zufrieden mit der Zahl an Austauschprojekten zwischen ost- und westeuropäischen Staaten im E-Twinning-Programm?

Immerhin haben wir unter den Gewinnern ein paar Ost-West-Projekte.

Ist Ihnen an einem solchen Ost-West-Austausch gelegen?

Ich komme von jenseits des Eisernen Vorhangs. Ich habe erlebt, was es heißt, einander nicht gut genug zu kennen. Es gab viele Zweifel, Fragen und Vorurteile. Heute sind viele dieser Barrieren in den Köpfen gefallen – wie ja auch die Vorstellung von Ossis und Wessis in Deutschland abnimmt.

Sie selbst haben vier Kinder. Empfehlen Sie ihnen diesen Weg?

Meine Tochter studiert in Brüssel. Das ist eine großartige Erfahrung, wie sie mir berichtet. Ich wünsche mir, dass jeder ein Semester in einem anderen Land verbringt.

INTERVIEW: LISA MÖNICHWEGER

JAN MAROT