piwik no script img

Meine kleine Leitkultur

DAS SCHLAGLOCH von MATHIAS GREFFRATH

Mozart hat auch Bewerbungen geschrieben. Jahrelang. Und nie vergessen, dass das Leben schön ist

Mozart wurde schon groß abgefeiert, ansonsten liegt das Jahr der großen Jubiläen noch frisch vor uns. Bevor es also richtig losgeht mit Freud-Features, Benn-Kassetten, Brecht-Abenden, Heine-Editionen und Beckett-Denkwürdigkeiten, stellen wir uns schnell und abschließend der Metafrage: Wie halten wir es mit der Leitkultur?

In deutschen Schulen sollten deutsche Kinder wieder Gedichte aufsagen und Beten lernen, regte der Parlamentspräsident zu Neujahr an, des Weiteren bat er Kulturträger um Auskunft, was das denn ihrer Meinung nach sein solle: die deutsche Leitkultur. Erst zur Buchmesse in Frankfurt werden wir die Antworten lesen; fragen wir also heute nur: Wozu brauchen wir sie eigentlich, die Leitkultur?

Die bündigste Antwort gab mir kürzlich ein wertkonservativer großer alter Herr der CDU: „Wir werden diese Gesellschaft nicht mehr über Arbeit integrieren können“, sagte er, das Modell Deutschland, die nivellierte Mittelstandsgesellschaft, mit dem Vollbeschäftigungs- und Konsumversprechen für alle gehöre – leider, leider – der Vergangenheit an. In der globalen Marktgesellschaft könne nur noch unsere gemeinsame Kultur Identität und Zusammenhalt stiften.

Nun, wie marktwirtschaftliche Traditionspflege aussieht, haben uns in den letzten Monaten 28 Großverlage in der Du-bist-Deutschland-Kampagne vorgeführt. Nähmen die sich zur Festigung der Leitkultur der Jubiläen des nächsten Jahres an, sähe das wohl etwa so aus:

Du bist Bertolt Brecht. Dein Sportlehrer hält dich für einen schlappen Typen, und der Deutschpauker hat keine Ahnung, dass in deinen Kritzeleien unter der Bank der Rohstoff für Erfolg wohnt. Wenn du willst, dass jemand dir zuhört, geh zu einer Werbeagentur. Oder mach aus deinen anarchistischen Träumen eine große Oper, und du wirst die schönsten Frauen um dich haben und Cohibas rauchen, so viel du willst.

Oder:

Du bist Mozart: Manchmal tun dir die Finger weh, und du fluchst über deinen Klavierlehrer, so wie Wolfgang über seinen Vater. Ganz tief in dir spürst du unerhörte Kadenzen. Aber niemand hört, was du nur in dir hörst. Du musst es aufs Papier bringen, und wenn es nicht taugt, wirf es weg und fang von vorn an. Und dreh nicht gleich durch, wenn keiner deine Sachen aufführen will. Mozart hat auch Bewerbungen geschrieben. Jahrelang. Und dabei nie vergessen, dass das Leben schön ist.

Oder vielleicht so:

Du bist Gottfried Benn: Manchmal denkst du, es sprengt dir den Kopf, wenn du über das Universum nachdenkst oder Liebeskummer hast oder merkst, dass du schon alt bist. Dann gehst du in die Kneipe an der Ecke und haust dir die Kanne voll. Und kritzelst den Deckel voll. Jeder hat solche Phasen. Aber du weißt, am nächsten Tag kommen wieder Menschen in deine Praxis, die brauchen dich. Jeder ist mal verzweifelt. Die Hauptsache ist: dass du deinen Job gut machst. Und wenn du dazu eine Auszeit brauchst, dann nimmst du sie dir. Damit du morgen noch besser bist.

Die Herrschaften der Aktionsgemeinschaft „Du bist Deutschland“ haben eins begriffen: Kulturelle Erinnerung ist kein Selbstzweck und keine ABM für freiberufliche Autoren. Kulturelles Gedächtnis nach ihrem Geschmack soll Treibstoff sein für Ego-Maschinen – und kalendarisch geregelte Marktchancen für CD-Produzenten und Großverlage schaffen. DU bist, nicht WIR sind – die Erben von Goethe, Beethoven, Einstein. Diese Art des Klassikergedenkens ist nicht gerade angetan, Gemeinschaftsgefühle zu inspirieren oder aus dem Gefühlsrohstoff, mit dem uns die Autoren unserer Jugendjahre ausgestattet haben, neue politische Energie zu gewinnen.

Aber stellen wir uns nur einmal vor, der neue Kulturstaatsminister zitierte am 14. August, dem Todestag Brechts, im Parlament dieses Gedicht:Einmal, wenn da Zeit sein wird / Werden wir die Gedanken aller Denker aller Zeiten bedenken / Alle Bilder aller Meister besehen / Alle Spaßmacher belachen / Alle Frauen hofieren / Alle Männer belehren

Und er führe fort: Daher, meine Damen und Herren, müssen wir die gesellschaftliche Regelarbeitszeit von 40 auf 30 Stunden setzen, ohne vollen Lohnausgleich. Wir müssen, gleitend natürlich, Geld- durch Zeitwohlstand ersetzen: damit wir nicht 6 Millionen ausgrenzen, damit wir mehr Zeit für uns haben, damit wir, wie wir es einmal wollten, eine Kulturnation werden.

Stellen wir uns, für einen Moment nur, vor, ein Bildungsminister würde, so um den 7. Juli herum, vor einer Versammlung von Industriellen beiläufig sagen: „‚Ich habe übrigens Menschen getroffen, die mit Eltern und vier Geschwistern in einer Stube aufwuchsen, nachts, die Finger in den Ohren, am Küchenherde lernten, hochkamen, äußerlich schön und ladylike (…) Ich habe mich oft gefragt und keine Antwort gefunden, woher das Sanfte und Gute kommt, weiß es auch heute nicht …‘ – aber, meine Damen und Herren, das seelische Massenelend der Jugendlichen werden wir nie lösen, wenn wir nicht eine massive Bildungsanstrengung machen – und deshalb werde ich auf eine zehnprozentige Erbschaftssteuer hinwirken und hoffe, in vielen von Ihnen Mitstreiter zu finden.“

Ja, das sind so nichtsnutzige Feuilletonträume, denn das eine, einigende kulturelle Erbe hat es noch nie gegeben, es wurde immer schon klassenspezifisch zugeteilt. Nach den politischen Katastrophen des vorigen Jahrhunderts und im kosmopolitischen Wirbel der Kulturindustrie ist es eh zum Steinbruch geworden, in dem sich jeder seine Brocken sucht. Nicht unser George und unser Simmel, unser Joyce und unser Coelho; nicht ein großes gemeinsames Erbe, schon gar kein nationales mehr, sondern viele disparate Erbstücke.

Im kosmopolitischen Wirbel der Kultur-industrie ist das kulturelle Erbe zum Steinbruch geworden

So hat am Ende jeder seinen Benn, seine Utta Danella, seine Rosamunde Pilcher, seinen Brecht. Und seinen Mozart. Hier ist meiner: An der Leibnizschule in Hannover war es einem Musiklehrer gelungen, aus pubertierenden Knaben, die in den Hinterbänken der respektiven Länge ihrer frisch erwachten Männlichkeiten mehr Aufmerksamkeit schenkten als den himmlischen Pausen Mozarts, einen respektablen Chor zu formen. Der gab, kurz vor dem Bau der Mauer, ein Konzert, zusammen mit dem Orchester des Goethe-Gymnasiums aus Schwerin. Und sang einen der Freimaurergesänge: „Brüder, reicht die Hand zum Bunde! Diese schöne Feierstunde führ uns hin zu lichten Höhn! (…) Ihr, auf diesem Stern die besten, Menschen all im Ost und Westen, wie im Süden und im Nord! (…) Wahrheit suchen, Tugend üben, Gott und Menschen herzlich lieben, das sei unser Lösungswort.“

Mozarts trickreich-tiefe Kinderterzen strahlten, unten saßen die Eltern, der Dirigent hatte Tränen in den Augen. Das war für mich der Anfang von Politik, er strahlt bis heute. Wir brauchen keine Politikerdebatten über Leitkultur, Literaturkanons, und schon recht keine Gebete in der Schule. Wir brauchen Geld für Schulen, in denen Kinder solche Erfahrungen machen, Lehrstellen für gute Arbeit, und ein nachhaltiges, öffentliches Bekenntnis der Politik zur Ausgestaltung des Artikel 14 GG, ggf. seine Plakatierung an allen Orten, die sich dafür anbieten. Für den Rest sorgen wir dann selber. Mit ein bisschen Hilfe von Heine und Brecht, Mozart und Lennon.

Fotohinweis

Mathias Greffrath lebt als Publizist in Berlin.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen